Feuilleton
Zum guten Schluss.
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, 19. August 2024
Preisfrage:
Was haben Johann Ernst Altenburg, Alexander Grigorjewitsch Arutjunjan, Pooyan Azadeh, Bach, Heinrich Joseph Baermann, Samuel Barber, Albert Becker, Bellini, Augustin Bena, Heinrich Ignaz Franz Biber, Bizet, Brahms, Karl Wilhelm Brandt, Giulio Caccini, Casey Cangelosi, Pierre Certon, Chick Corea, Carlos Cipa, Aftab Darvishi, Debussy, Delibes, Baldassare Donati, John Dowland, Dvořák, Jacob van Eyck, Fauré, Kurt Engel, Carlos Gardel, Mark Glentworth, Gluck, Maria Grever, Carlos Guastavino, Pedro Elías Gutiérrez, Händel, Reynaldo Hahn, Marta Haladzhun, William Hayes, Hildegard von Bingen, Hindemith, Humperdinck, Tudor Jarda, Darvish Khan, Zhanna Kolodub, José María Lacalle, Agustin Lara, Frederik Loewe, Jaako Mäntyjärvi, Alessandro Marcello, Robert Marino, Javad Maroofi, Massenet, Julio Medaglia, Mendelssohn, Thierry de Mey, Mozart, Gavriil Musicescu, Mussorgsky, Chary Nurymov, Offenbach, Orff, Demetrio Ortiz, Fabian Otten, Martin Palmeri, Pierre Passereau, Jacopo Peri, Astor Piazolla, Francis Pilkington, George Frederick Pinto, Wilma Pistorius, Manuel Maria Ponce, Ronald Lo Presti, Puccini, Purcell, Ariel Ramirez, Ravel, Wolfgang Rihm, Anton Rosetti, Johann X. Schachtner, Johann Heinrich Schmelzer, Mathias Schmitt, Schostakowitsch, Schubert, Clara Schumann, Robert Schumann, Yixie Shen, Emil Simon, Hans Sommer, Robert Stolz, Johann Strauss, Valentin Sylwestrow, Paul Taffanel, Telemann, Felix Tetz, Federico Moreno Torroba, Tschaikowsky, Orazio Vecchi, Heitor Villa Lobos, Vivaldi, Weber, John Wilbye, Dominic Wills, Leonard Willscher, Nebojša Jovan Živković, ein anonymer Spanier des 16. Jahrhunderts und die Schöpfer des Radif gemein?
Antwort:
Alle diese Komponistinnen und Komponisten sind beim diesjährigen Festival junger Künstler Bayreuth mindestens einmal auf den Programmzettel gesetzt worden. All diese kreativen Musiker, die – unabhängig davon, ob sie im 12. oder 21. Jahrhundert gewirkt haben oder immer noch wirken – sind offensichtlich immer noch so gut, um auch noch das Publikum der Gegenwart mitzureißen. Das Festival bot also wieder einmal die einmalige Chance, mit Werken und Meisterinnen wie Meistern bekannt zu machen, denen man im „normalen“ Bayreuther Musikleben so gut wie nie begegnet. 102 Namen, dazugepackt eine Anonyme, unter ihnen die Schöpfer der persischen Kunstmusik, des Radif: das war in nur knapp drei Wochen, reichlich viel – und war reichlich beglückend. Wie schade nur, dass nicht jedes der anspruchsvollen Programme seine Zuhörer fand; da ist noch, dachte sich der Feuilletonist, viel Luft nach oben. In die Stadtkirche kamen wieder einmal viele Besucher; klar: Je mehr Menschen auf der Konzertbühne stehen, desto mehr Besucher kommen auch. Auch macht’s der Ort – die Speinsharter Klosterkirche oder die Bayreuther Stadtkirche sind eben attraktiver als der relativ nüchterne Saal im „Zentrum“ – aber seltsam, ungerecht und bedauerlich bleibt’s doch: nicht zuletzt für all jene, die sich das Vergnügen nahmen, gegen eine kleine Spende (nur eine kleine Spende!) lebende Komponisten und ihre neuen Lieder oder neue Sängerinnen mit alten Arien zu erleben. Aber was heißt hier schon „alt? Das Festival junger Künstler Bayreuth, das sich in diesem Jahr das „Zu:kunfts“-Thema aufs Panier geschrieben hat, bewies jedes Mal mit Vehemenz, dass es keine alte, nur immer wieder neue und neu zu genießende Musik gibt – gleich, ob wir einem Flötenstück nach Hildegard von Bingen oder einer Heine-Vertonung von 2024 oder einem hier bis dato unbekannten Chorsatz aus dem frühen 20. Jahrhundert lauschten.
Überhaupt die Chöre! Im Vokalkollektiv kommen ja besonders viele junge Musikerinnen und Musiker zusammen. Mag sein, dass der persönliche, sprachliche Austausch zwischen, sagen wir, den Turkmenen und den Rumänen sprachlich schwierig ist oder sich junge Perserinnen vielleicht nur schlecht mit, sagen wir, mexikanischen Trompetern unterhalten können – Begegnungen, Diskurse nichtsprachlicher Art gab es doch wieder allenthalben: nicht allein bei der Fiesta Franconia oder dem improvisierten und dann so glücklichen Bunten Abend in Coco Sturms Kulturkiosk. Chöre, berauschende, gab es in der Dorfkirche und der Stadtkirche: die siebenbürgischen Rumänen standen diesmal in der ersten Reihe und machten alle Besucher, in der Oberpfalz und im Hummelgau, in Bayreuth und in Gesees, glücklich. Mehr „Zukunft“ in der Gegenwart konnte, rein ästhetisch betrachtet, kaum sein. Was aber immer wieder wie ein kleines Wunder in manch Veranstaltung hineinstrahlte, waren die drei jungen Frauen aus dem Iran. Ihre Namen müssen genannt werden: Shima Sadeghi, Azin Yousefan und Maedeh Shafiel. In ihrer Heimat dürfen sie nicht offiziell musizieren (man fasst es nicht), hier erhielten sie öffentliche Standing Ovations, ausgeführt von einem begeisterten Publikum weiblicher und männlicher Besucher. Allein schon diese Szenen dürften die Relevanz des auch politisch motivierten Festivals über alle Grenzen hinweg beweisen.
Shima, Azin und Maedeh aber waren nicht die einzigen Künstlerinnen, die seit Ende Juli auffielen. Man müsste alle Musikerinnen und Musiker nennen, die aus dem Festival eine Revue von Höhepunkten, Stilen, Kunst-Arten und Haltungen machten: Jasmina Aboubakari, Caroline Adler, Carlos Avina, Pooyan Azadeh, Andreas Begert, Dorothea Bender, Christian Benning, Carmen Callejas, die Sängerinnen und Sänger der Capella Transylvanica, Augusto Cuccaracci, Bahram Dolyyev, Daniel Molina Eyzaguirre, Galatea Flassig, Ophelia Flassig, Laura Freiberger, Yusupgeldi Gandymov, Augustin Geer, Anna Godelmann, Alan Gomez, Sergio Gomez, Esther Gresswell, Cornel Groza, Isabel Grübl, Marta Haladzhun, Miriam Hanika, Josephine Hempel, Andriy Ilkiv, Natalia Ilkiv, Mads Jacobsen, Rachael Joyce, Natalia Karaszewska, Felix Kolb, Anna-Sophia Kraus, Juan Elvira Márquez, Konstantin Maskkorski, Dan Marius Misaras, Claraliz Mora, Marcel Morikawa, Begli Muhammedow, Yusuv Ovezov, Selbi Ovezova, Alex Peh, Lucca Verdi Pires, Kaspar Reh, Otto Sauter, Johannes X. Schachtner, Sophia Schambeck, Cornelia Schneider, Martin Schneider, Fred Sjöberg, Maximilian Strutynski, Paul Sturm, Poldy tagle, Roman Urban, Victor Hugo Villena, Friedamaria Wallbrecher und Toyli Yagshyrev, nicht zuletzt die Festspielkinder, die im Zaubertheater-Workshop die Bühne eroberten. Nicht zu vergessen auch die Kräfte im vorderen Hintergrund, oder anders: im hinteren Vordergrund, also Antonia und Johanna, Felix und Valentin, Aithra und Benedikt undundund. Die Stepping Stonler waren auch diesmal allgegenwärtig: ohne sie wäre nichts gegangen – oder doch nicht so, dass es so gegangen wäre: also gut.
Was blieb haften? Nur eines von vielen Beispielen, aber es ist typisch: dass die ernst schauenden Musiker aus Turkmenistan irgendwann denn doch zu lächeln begannen und auftauten, das sind so Momente gewesen, um derentwillen es sich immer wieder lohnt, ein Internationales Festival junger Künstler anzusetzen. Mit Antonia, Johanna, Juan, Sissy, Sophia, Yusupgeldi und wie sie alle heißen ...
Abschlusskonzert: Percussion-Feuerwerk "Zurück in die Zukunft"
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Jugendkulturzentrum, Europasaal, 17. August 2024
Die Intendantin beschwört ausdrücklich „das Glück, einen strahlenden Abschluss mit ihnen zu feiern“.
Große Worte, aber sie treffen zu; man merkt‘s am Ende auch am Beifall, den als frenetisch zu bezeichnen untertrieben wäre. Für das Abschlusskonzert eines Festivals junger Künstler gibt es keine Regeln, oder anders: Da muss kein Symphonieorchester auftreten, um die Gültigkeit dessen, zu belegen, woran man glaubt und wofür man arbeitet. Am Ende stehen also drei Männer und einige Geräte auf der Bühne des Europasaals, um ein „Percussion-Feuerwerk“ (so der Untertitel) abzubrennen.
Zurück in die Zukunft, so heißt ein US-Amerikanischer Spielfilm, zurück in die Zukunft, nach vorn Gas gebend, aber in den Rückspiegel schauend, so hat das am Vorabend Fredrik Schwenk im Abschlusskonzert des Kompositionsworkshops genannt. Also stehen am Abend auch Werke von Ravel und Bach auf dem Zettel – aber in verwandelter Gestalt, gleichsam verjüngt, obwohl der Franzose und der Mann aus Thüringen nicht geliftet werden müssen, um ewig jung zu erscheinen. Nur klingen sie halt noch mal anders, wenn sie entweder notengetreu (bei der „Alborada del Gracioso“) oder modernistisch erweitert (das c-Moll-Präludium aus dem „Wohltemperierten Klavier“) bearbeitet werden.
Doch seltsam: Auf dem Marimba- und dem Metallophon tönt der Ravel wie ein Original, bevor der Bach seine Zeitlosigkeit auch dadurch beweist, dass die Achtelketten vom Schlagzeug-Rhythmus ins Heute geholt werden. Ansonsten zeigt sich die Güte des Abends 1. in der ungeheuer stupenden Technik der drei Musiker, 2. in der stilistischen Vielfalt und am Einfallsreichtum der ausgewählten Werke. Man denkt ja als älterer Musikfreund, dass man schon alles gehört hat – aber wenn in einem Percussionstück kein einziger Liveschlag erfolgt, sondern parallel zu einer Tonspur ein rotleuchtender, von Benning in Einsatz gebrachter Drumstick in einer Schwarzlichtperformance millimetergenau die Geräusche des Soundtracks optisch reproduziert (in Casey Cangelosis spektakulärem „Bad Touch (A-C)“), ist man schier gebannt.
Auch die folgende „Musique De Table“ Thierry de Meys überrascht durch die Abwesenheit traditioneller Mittel, wenn die drei Musiker an drei Tischen sitzen, um die Oberflächen streichend und klopfend zu bearbeiten.
Dagegen klingt ein „Blues for Gilbert" (von Mark Glentworth), sogar ein hochvirtuoses Werk wie Robert Marinos „Eight on 3 & Nine on two“, das bereits im letzten Jahr zu erleben war und so etwas wie einen Schlager Christian Bennings und Marcel Morikawas repräsentiert, geradezu „normal“. Und wenn kurz vor Schluss Chick Coreas Standard „Spain“ die Zuhörer rockt, wissen wir, dass zwischen Avantgarde und Klassik kein Blatt Papier mehr passt.
Der Beifall ist denn auch gewaltig und unbezahlbar. „Money first“, sagt Sissy Thammer vor den Freunden des Fördervereins des Festivals, „aber in meinem Herzen sind zuerst die Künstler“. Das Tolle aber ist die Tatsache, dass Kostbarkeiten wie die Christian Benning Percussion Group - aber wer ist schon „wie“ diese Gruppe? - zwischen ihren Auftritten in der Sagrada Familia und bei der Biennale in Bayreuth Station machen: für die Besucher gegen eine Spende.
Mehr Barrierefreiheit, weniger Absperrung gibt es nicht. Umso schöner, dass an diesem letzten großen Abend der Europasaal wieder angemessen gefüllt ist. Bei manch anderem Konzert war dies bedauerlicherweise nicht der Fall, aber man kann ja die Bayreuther nicht zu ihrem Glück zwingen. Wie anfangs geschrieben: Die Intendantin beschwört ausdrücklich „das Glück, einen strahlenden Abschluss mit ihnen zu feiern“: mit einer Zukunftsmusik von Gestern und Heute, die nur in der schnell verrinnenden Gegenwart so intensiv erlebt werden kann. Noch der letzte gespielte Takt des Abschlusskonzerts 2024 hat es quasi schlagend bewiesen.
Abschluss des Kompositionsworkshops „zweimal hören“
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Jugendkulturzentrum, Europasaal, 16. August 2024
Sie würden, sagt der Lehrer, nach vorn fahren, aber dabei in den Rückspiegel schauen.
Sie: das sind fünf junge Leute, der Lehrer: das ist Fredrik Schwenk, seit 24 Jahren an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg als Kompositionslehrer tätig. Im Europasaal stellen sie, quasi intern – denn das Bayreuther Publikum tummelt sich gleichzeitig in der Ordenskirche, und für so etwas Exotisches wie neue Lieder gibt‘s halt kaum eine Zuhörerschaft – fünf Werke vor. Die Idee: einer alten Vertonung wird die Neufassung gegenübergestellt, so dass jedes Mal ein Tandem entsteht. Bis auf ein Opust handelt es sich tatsächlich um jeweils zwei Musikalisierungen eines Texts. „Herzblut“ - Liedvertonungen eins und jetzt, unter dieser Überschrift stellen die jungen Leute ihre Versionen in den Raum. Professor Germelmann zitiert Wagner, „Kinder, schafft Neues“, da ist die Rede vom Aufbrechen der Formenstrenge – und vom Weiterdenken traditioneller Muster. Tatsächlich reagieren die vier Komponisten und die eine Komponistin, ob sie wollen oder nicht, mehr oder weniger direkt auf die Werke Schuberts, Schumanns, Hindemiths, Peris und George Frederick Pintos. George Frederick Pinto? Das Festival junger Künstler ist auch dafür gut, unbekannte Komponisten der Vergangenheit zu entreißen. Der hochbegabte Pinto, gestorben im Jahre 1806, war erst 21, als er das Zeitliche segnete; heute würde er vielleicht im Sommer nach Bayreuth reisen. Wie hätte er, fragt Dominic Wills, wohl weitergeschrieben, hätte er weitergelebt? An „Eloise to Abelard“ aus dessen „Four Canzonets and a Sonata“ fällt Wills auf, dass die Emotionen musikalisch nicht besonders authentisch wirken. „Authentizität“, das ist das vielleicht wichtigste Schlagwort des Programms. Und also klingt die gegenwärtige Entsprechung, das Gegenstück, die Vertonung eines Gedichts der 1781 verstorbenen Judith Cowpers mit dem Titel „Alas!“ nicht spätbarock, sondern zerrissen, fragmentarisch, expressiv. Umgekehrt nimmt Yixie Shen die Kargheit von Schuberts „Krähe“ auf, um auf der Grundlage eines trocken klopfenden Sounds (präpariertes Piano!) auf eigene Weise das einheitliche und sparsame Material des Schubert-Lieds in die Moderne zu überführen.
Auch bei Leonard Willschers „Intenerite voi, lacrime mie“ gibt es einen Reflex auf die artifizielle Renaissance-Vertonung des Opernmiterfinders Jacopo Peri – nun klingen die beiden sich verschlingenden Stimmen von Mann und Frau geradezu mittelalterlich: wie eine Beschwörung aus der Zeit der Gregorianik. Felix Tetz‘ Heine-Lied „Wenn ich in deine Augen seh“ lässt die Wiener Schule eines Schönberg und Berg anklingen, ohne im Anklang aufzugehen, wobei, darauf macht Schwenk aufmerksam, am Ende gar eine zarte Schumann-Hommage begegnet. Und Fabian Otten setzt sich in „Traum“ direkt mit Hindemiths Lasker-Schüler-Vertonung auseinander, indem er den Klaviersatz erregter gestaltet als die darüber liegende Stimme: als wär‘s ein sehr dunkler Traum – was er textlich ja auch ist.
Kann man heute noch Kunstlieder schreiben? Natürlich, auch wenn Theodor W. Adorno einst, wie Schwenk erläutert, nach der Katastrophe des Holocaust mit einem viel zitierten Satz das Ansinnen abwehrte, dass nach Auschwitz noch ein Gedicht möglich sei. Die kulturkritische Skepsis ist inzwischen der Gewissheit gewichen, dass die Kunst doch wesentlich mehr erlaubt als anti-ästhetische Verdikte. Die fünf jungen Leute machen denn auch mit ihren kleinen Statements, platziert zwischen dem ersten Durchgang und der Wiederholung der neuen Lieder in veränderter Reihenfolge, klar, wieso und warum sie so komponierten und nicht anders. Dann durften Carmen Callejas, der Bariton Mads Jakobsen und der Pianist Juan Elvira Márquez noch einmal zeigen, wie heutige Kunstlieder klingen können: mit dem Blick nach vorn, in eine nahe musikalische Zukunft, doch gleichzeitig mit dem huldigenden wie distanzierten Blick auf die Vergangenheit.
Das Herzblut wallt, so gesehen, nicht allein in den Texten.
Festliche Trompetenserenade
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Speinshart, Klosterkirche Maria Immaculata, 15. August 2024
Natürlich, der Raum. Er spielt, ob er will oder nicht, immer mit. Also sind wir zum sechsten und, für dieses Jahr, letzten Mal in der Speinsharter Klosterkirche zu Gast. Glanzvolle Trompetenmusik vom Barock zur Moderne, so steht’s auf dem Programmzettel. Das Gottes- und Kulturhaus ist bis auf den letzten Platz gefüllt, wieder stehen Menschen auf den oberen Emporen und schauen in die Tiefe, die junge Praktikantin, d. h.: Mitarbeiterin und Mitermöglicherin schaut, während Telemanns Trompetenkonzert ertönt, versonnen wie aufmerksam vom Eingang zur Sakristei in den nahen Altarraum, in die Höhe, auf jeden Fall: Sie genießt den schönen Anblick, während sie die schöne Musik hört. Man könnte da fast von Synästhesie sprechen, vom Wahrnehmen auf mehreren Ebenen. Dazu passt Telemann natürlich wie, nein, nicht wie die vielzitierte Faust aufs Auge, das Bild wäre zu brutal, sondern wie die Madonna auf ein Altarblatt. Da schwebt sie ja denn auch – und sie schaut umso vertrauter, je vielfältiger die Trompeter die Musik erklingen lassen. Maria Immaculata eben.
Wenn vier Männer und (nur) eine Frau also Karl Wilhelm „Willy“ Brandts alias Wassili Georgijewitsch Brandts Ländliche Bilder spielen, passt’s schon deshalb, weil der erste Satz den Titel In der Kirche trägt, doch auch beim dritten Satz – er heißt Beim "Fest oder Beim Schmaus" – spielt Maria mit. Sieht’s nicht aus, als würde sie jetzt ganz anders, sozusagen weltlicher auf das Treiben zu ihren Füßen schauen? Interessant ist nun nicht allein die Musik selbst, die zwischen U und E changiert, indem sie keine Unterschiede macht. Denn der Komponist wurde 1869 im nicht ganz so entfernten Coburg geboren, um am Moskauer Bolschoi-Theater mit 21 Jahren Solist und 13 Jahre später erster Kornettist zu werden. Er gilt, liest man im Netz, als der Begründer der russischen Trompetenschule. Geboren im Fürstentum Sachsen-Coburg-Gotha, starb er 1923 in der Sowjetunion.
Das sind so Lebensläufe des 20. Jahrhunderts.
Insofern passt ein Werk des als Deutscher geborenen Russen trefflich in ein Internationales Festival junger Künstler. Vorn stehen heute Abend acht Bläser und eine Trompeterin aus Mexiko; sie heißt Vicky Escobar. Unter der Leitung des Gründers der WBA, der World & Brass Association, Professor Otto Sauter, Piccolo-Trompete, der zum wiederholten Mal beim Festival zu Gast ist, hören wir Telemann, Bach, Alessandro Marcello, Giulio Caccini und Johann Ernst Altenburg, meist in Bearbeitungen, auch Brandt, Zhanna Kolodub und Roland Lo Presti.
Die Spieler kommen aus Mexiko, den USA (das sind dann eingewanderte Mexikaner), Italien – und der Ukraine. Andriy Ilkiv bläst auf seinem Flügelhorn die Mutterliebe eines ukrainischen Komponisten; spätestens dann wird der Abend dann politisch, und das Flügelhorn tönt besonders weich in das Kirchenschiff. Ilkivs Frau Natalia („Natalia, Brava“, ruft die Chefin nach Bachs Fantasie aus BWV 904 vernehmlich in Richtung Keyboard) ist mit dabei, sie spielt auch den Orgelsound in Marcellos für Trompeten bearbeitetes Adagio, das ein bisschen an Nino Rotas score für den Paten erinnert. Ein Original ist Johann Ernst Altenburgs Konzert für 7 Trompeten und Pauken; die Pauken fehlen, aber man und frau kann sie sich vorstellen. Im goldstählernen Trompetenglanz wirken die Kardinäle, die vor ein paar Tagen noch südamerikanisch mitgeswingt haben, plötzlich wie majestätisch erstarrt. Das Lyrische Intermezzo der ukrainischen Komponistin Zhanna Kolodub tönt dagegen ausgesprochen weich; an der B-Trompete steht wieder Andriy Ilkiv, Ukraine. Zuletzt versammeln sich, um die Intrada (der Eingang wird zum strahlenden Finale) des US-amerikanischen Komponisten Roland Lo Presti aus dessen Trompeten-Suite kraftvoll in den Kirchenraum zu schicken – zuletzt spielen alle elf Musiker, die Ukrainer und die Mexikaner und der Deutsche.
Ist da nicht was zwischen den USA und Mexiko? Irgendwelche gewaltsamen Grenz- und Migrationsgeschichten? Zu Beginn des Abends weist Bürgermeister Albert Nickl auf die verbindende Kraft der Musik hin. In einer Zeit der Kriege wäre sie jenes Element, das über die Grenzen ginge. Daniel Barenboim, der Gründer des West-Eastern Divan Orchestra, sieht das schon seit Jahren anders, der bereits Jahre dauernde Krieg zwischen Israel und den Palästinensern hat auch den vorsichtigen Optimisten erschüttert. Zwischen Russland und der Ukraine herrscht gleichfalls Krieg, aber es ist schön, wenn auch ukrainische Musiker ein Werk eines deutschen, dann russischen Komponisten, sofort danach das Werk einer ukrainischen Musikerin spielen. Ganz am Ende stehen einige Solo-Zugaben: Mariachi in der Marienkirche, mexikanische Musik unter der Madonna. Vielleicht hilft’s ja was, man wünscht es sich - aber jetzt schon wirkt die Musik auf alle ein. Und, banal gesagt: Wer musiziert, schießt nicht – höchstens mit glanzvollen Noten und verzaubernden Instrumenten.
Liebeszauber
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Das Zentrum, Europasaal, 13. August 2024
Beim Festival junger Künstler Bayreuth lebt man schon in der Zukunft. Wie das? Das Konzert, das am 14. August im Europasaal stattfindet, geht laut Programmzettel erst am 18. August über die Bühne.
Ist in Ordnung, denn die beiden jungen Frauen, die an diesem Abend den „Liebeszauber!“ (ausdrücklich mit Ausrufezeichen) entfachen sollen, haben ja noch eine musikalische Zukunft vor sich. Davor aber liegt das Studium, das Ausprobieren, das Lernen; vor einigen Tagen konnte man Rachael Joyce und Esther Gresswell in einer öffentlichen Unterrichtsstunde arbeiten sehen. Was hat man nicht alles bei einem „schlichten“ Liederprogramm zu berücksichtigen – die Stimme, den Ausdruck, die Artikulation (die beiden Künstlerinnen kommen aus Australien), die Haltung, die Arme, die Hände und 100 sonstige Kleinigkeiten. So betrachtet fordert ein Liederabend nicht weniger als eine Oper, ja: Er ist genauso anspruchsvoll und ernst zu nehmen wie eine „große“ Oper, birgt vielleicht noch mehr Tücken als ein musiktheatrales Gesamtkunstwerk. Am Abend sieht und hört man’s; insofern ist die Probebühne namens Festival junger Künstler Bayreuth der richtige Ort, um Sachen, Stimmen, Haltungen auszuprobieren.
Nun also das Konzert, in dem sie nicht die öffentlich geprobten Arien, Lieder und Duette, sondern Anderes zum Besten geben. Joyce lässt ihren volltönenden, fokussierten Sopran leuchten, Gresswell traut sich leider erst im zweiten Teil an einen ungebremsten Ausdruck ihres relativ hellen Mezzosoprans.
Während die Sopranistin mit Händel, Mozart, Reynaldo Hahn, Robert Stolz und Puccini in vokale Erscheinung tritt, widmet sich Gresswell Mozarts Cherubino, einer Canzone von Bellini, Weber, Händel, Massenets Charlotte und der Carmen; zusammen sind sie Hänsel & Gretel und Giulietta &Nicklausse, natürlich mit dem Abendsegen, natürlich mit der Barcarolle. Kommt da am Ende Schunkelstimmung auf? Bedingt… Dass Joyce mit dem Rausschmeißer „I could have dance tonight“ das erste schnelle Stück des Abends serviert, fällt auf.
Liegt es am pianistischen Begleiter Paul Sturm, dass das Tempo mancher „Nummer“ immer langsamer ist als gewohnt? Wo doch die Auswahl der Stücke bereits auf einen gemächlichen „Liebeszauber“ hindeutet, wie er eher DANACH waltet, wenn alles getan ist? So dass selbst „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“ aus Stolz’ Operette „Der Favorit“ die Vierminutengrenze überschreitet. Wenn danach „Ombra mai fu“ (kein Trauerstück, aber sehr beliebt bei Trauerfeiern) erklingt und vorher Paminas Trauerarie einen Tick zu adagiohaft ist, muss man sich zwar nicht nach Nikolaus Harnoncourts Pamina-Arien-Tempo (drei Minuten neun Sekunden!) sehnen – aber man könnte darüber nachdenken, wie man ein wirklich spannungsreiches Programm spannungsreich gestalten kann.
Schließlich geht’s ja hier um die Zukunft der beiden Sängerinnen. Und die hat ja bereits in der Gegenwart begonnen – auch in der Gegenwart eines Bayreuther Liederabends.
Sophias Werkstatt
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Jean Paul Art Space, 12. August 2024
Alles, was kann, fächelt.
Klima halt, oder anders: Wir sitzen im Klimakonzert II alias „Sophias Werkstatt“, also einer Fortsetzung des letztjährigen Konzerts, das am selben Ort stattgefunden hat – wieder mit der Flötistin Sophia Schambeck und der ukrainisch-deutschen Sound-Designerin Marta Haladzhun am Pult, die ihre „Soundinterludes“ und „Live Electronics“ in den Raum schickt. Diesmal steht eine weitere Frau vor den Besuchern; Salome Ryser hat am Konzept der Veranstaltung mitgearbeitet und führt in das Thema ein. Schambeck und sie standen einst in einem Supermarkt vor einem Kühlregal, das war der Anstoß. Über das Klima muss man eigentlich heute nicht mehr sprechen, aber man muss darüber sprechen, weil… Die Gründe sind bekannt. Wie kann man „das“ Problem lösen? Vorschlag der Frauen: durch „kleine Veränderungen im Alltag“. Doch stehen vor der Konzert-Performance erst einmal Fragen im Raum, d.h.: Sie werden dem Publikum gestellt. Ist Natur unersetzbar? (was für eine Frage – war sie wirklich ernst gemeint?) Worauf können wir verzichten? Was bedeutet Natur für Sie? Sind auch wir Menschen Natur (das sollte sich, denkt sich der Besucher, langsam herumgesprochen haben)? Können wir uns von der Natur abgrenzen? Wer heute, denke ich, nur ein paar Minuten TV geglotzt hat und sich die unglaublich überdimensionalen Waldbrände bei und vor Athen angeschaut hat, weiß, dass die Zeit des „Abgrenzens“ längst abgelaufen ist.
Also: Zuhören und nachdenken über das, was da passiert, sagt Schambeck und meint zunächst das Konzert.
Danach entsteht auch so etwas wie ein kleines Gespräch, aber vor dem Diskurs haben die zwei Künstlerinnen die Kunst gestellt. Die Flötistin, giftgrüne Hose, tiefschwarzes Oberteil, geht durch den Gang, die Musik kommt aus Nah und Fern. Die Kombination aus Echt-Flöte und eingespieltem Sound entzückt wie im letzten Jahr, Natur und Kunst kommen wieder ganz nah, was da entsteht, ist auch feinnervlich und -stofflich berückend. Eine Nachtigall ertönt, wieder hören wir Jacob van Eycks „Engels Nachtegaeltje“, und Sophia schaut nach oben, als flögen dort die Vögel, die gerade aus ihrem Rohr herauszwitschern. Bei Debussys „Syrinx“, dem Paradestück aller impressionistisch aufgelegten Flötistinnen, sitzt sie auf dem Boden, doch die Elektronik dringt immer bedrohlicher in den Raum. Vor einem Jahr klang das noch luftiger, aber inzwischen sind 365 Tage vergangen, in denen viel, zu viel geschehen ist. In einer Improvisation schlägt Schambeck mit ihren Fingern auf die Flöte, Staccato und Legato wechseln einander ab, die Blick der Musikerin scheinen immer aufmerksamer zu werden. Mit dem Aulos, der antiken Doppelflöte, bringt sie uns wieder Wilma Pistorius’ „Ewigkeit in einem Augenzwinkern“ nahe. Die Elektronik akzentuiert das fremdnahe Stück, als man die Autos auf dem Kopfsteinpflaster der Friedrichstraße merklich rollen und lärmen hört. Am selben Tag verkündet die kleinste Koalitionspartei der Bundesregierung, dass den Autos in den Städten zu Ungunsten der Fußgänger und Radfahrer wesentlich mehr Raum eingeräumt werden müsse – eine Wahlkampfparole, die selbst von sog. konservativen Parteien zurückgewiesen wird. O virtus sapientiae… Das Donner der Elektronik, und nicht nur das, verstärkt sich auf unangenehme Weise.
Soviel zum Stand des „Bewusstseins“.
Der letzte Sound, den wir nach der Solo-Fassung von Vivaldis Winter-Eingang hören, erinnert an Autobahngeräusche. Wie schön klang da das Barockstück - ein Werk, in dem sich Symmetrie mit Leichtigkeit paart. Man wird daran erinnert, dass die venezianische Republik einst schwere Strafen gegen Umweltsünder verhängte, dass sie peinlich darauf bedacht war, das fragile Ökosystem der Lagune zu bewahren und im venezianischen Staatsarchiv auf vielen Regalmetern die Waldkataster liegen, die uns Auskunft geben über die Art und Weise, wieso und wie viel Holz damals geschlagen oder nicht geschlagen wurde. Im Gespräch erzählt Fanny Schmidt-Steingraeber, wie schwierig es heute schon aufgrund des Klimawandels und des sich daher massiv ausbreitenden Borkenkäfers ist, gutes und preiswertes Holz für die Resonanzböden der Steingraeber-Klaviere zu bekommen und nicht aus Kanada einfliegen zu lassen. Die Epidemiologin und Klimaaktivistin erzählt von ihrem Sohn, der am Klimabaumhaus vor dem Neuen Rathaus beteiligt war, und Schambeck sagt: „Wenn ich meinen Beitrag leiste, dann ändert sich etwas.“ Nur was? Das ist die Zukunfts-Frage. Reicht Bewusstsein schaffen – etwa durch Klimakonzerte – wirklich aus? Ein älterer Herr, Diplom-Ingenieur, grätscht in den vorsichtigen Optimismus hinein: „100 Prozent Emissionsvermeidung geht nicht“, die Probleme müssten global gelöst werden, aber wie soll das angesichts der Weltverhältnisse gehen? Ich denke: Die FDP hat heute einen in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichenden Vorschlag gemacht, Griechenland brennt, aber natürlich bleibt die Frage der globalen Gerechtigkeit aktuell. Die „armen“ Länder, so Cornelia Huth, „müssten das fossile Zeitalter überspringen“, aber, so Schambeck, sie wüsste ja selbst nicht, wie man alles 100prozentig umstellen kann. „Bravo“, ruft die Intendantin, „ein gutes Schlusswort“.
Oder anders: Der Vorhang zu und viele Fragen offen – oder nicht? Hoffnung, sagte Ernst Bloch, der große Philosoph der Hoffnung, Hoffnung kann auch enttäuscht werden. Vorderhand kapieren wir, was alles falsch läuft, wenn wir schönste Musik hören – und gleichzeitig die Verbrenner über die Friedrichstraße donnern.
PS: Frage: Wurde das 1,5 Grad-Ziel verfehlt? Der Verein „Greencity“ gab darauf am 1. März 2024 folgende Antwort: „Jein. Das kommt ganz auf die Betrachtungsweise an. Schaut m:an lediglich auf die letzten 12 Monate, dann wurde das 1,5-Grad-Ziel überschritten. Klimaforschung bezieht sich jedoch meistens auf langjährige Messreihen, Perioden von 10, 20 oder 30 Jahren. Diese Grenzüberschreitung sollte noch nicht als verfehltes Ziel betrachtet werden, sondern vielmehr als Warnsignal. Der starke Temperaturanstieg 2023 und Anfang 2024 ist unter anderem dem El Niño Effekt zuzuordnen. El Niño hat dazu beigetragen, dass 2023 außergewöhnlich heiß war. Das darf jedoch nicht über den Einfluss des Klimawandels hinwegtäuschen. Stürme, Waldbrände, Dürren und Hitzewellen nehmen ganz unabhängig von El Niño zu.“
Dies nur als Hoffnungs-Hinweis.
Zur Situation von Künstlerinnen und Künstlern in totalitären Systemen.
Vortrag von Dr. Thomas Rösch
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Jugendkulturzentrum Bayreuth, 12. August 2024
Vielleicht war das ja auch schon ein Akt der totalitären Ausgrenzung – obwohl die Studentinnen und Studenten des Mozarteums darauf hinwiesen, dass sie ja nicht die Musik Carl Orffs verbieten wollten. Allein der Akt, die Aktion also, war eindeutig: Nicht mehr gedacht werden soll ihrer.
Vor einigen Wochen strichen einige Leute des Mozarteums einige Namen quasi von der dortigen Ehrentafel, als sie all jene rot durchstrichen, die sich ihrer Meinung nach während der NS-Zeit derartig die Hände schmutzig gemacht hatten, dass ihre Namen nicht mehr auf einer Ehrentafel zu stehen hätten. Natürlich: von Herbert von Karajan ist bekannt, dass er gleich zweimal in die Partei eintrat (der Fall ist, nebenbei, verzwickter, als man glaubt), Cesar Bresgen machte sich in der Hitlerjugend- und Jugendmusik der Nazis stark (das stimmt) – und Carl Orff gilt ihnen immer noch mindestens als Mitläufer des NS-Regimes, wenn nicht gar als kultureller Triebtäter.
Zeit also, in einem Vortrag, dem auch junge Leute zuhören, Auskunft zu geben. Dr. Thomas Rösch ist Leiter des Münchner Orff-Zentrums, vor einigen Jahren wurde hier einmal im Europasaal Orffs „Prometheus“ aufgeführt. Der Grund, wieso heute kaum noch Werke des einstmals viel gespielten Musikers gespielt werden, hat auch politische, oder anders: denunziatorische Gründe. Inzwischen dürfte selbst jenen, die nur Wikipedia als „Quelle“ benutzen, bekannt sein, dass all das, was einst der Nazijäger Michael H. Kater gegen Orffs Rolle im Dritten Reich zu Papier brachte, widerlegt werden konnte. Anhand von drei Themen erläutert Rösch, der gleichsam an „der Quelle“ sitzt (und sie nicht eifersüchtig hütet), die Unhaltbarkeit der Aussage, dass Orff ein Nazi gewesen sei: 1. erfolgte der inkriminierte Auftrag zu einer Musik zu den Olympischen Spielen des Jahres 1936 nicht von der NS-Regierung, sondern vom IOC; zudem verrät die Musik keinerlei Bezüge zur NS-Kunst. 2. schrieb Orff seine neue Musik zum „Sommernachtstraum“ nicht deshalb, weil er dem als jüdisch geltenden Komponisten Mendelssohn eins auswischen wollte (die Pläne reichen bis ins Jahr 1917 zurück, und die Musik klingt wieder nicht wie „heroische“ NS-Musik), und 3. ging Orff aus dem Entnazifizierungsverfahren, das 1946 veranstaltet wurde, als „passiver Anti-Nazi“ heraus – und nicht als Mann, der seinen Hals retten wollte, indem er darauf hinwies, dass er angeblich zum Widerstand, ja: zu den Mitgliedern der „Weißen Rose“ gehörte.
Letzteres waren Erfindungen Michael H. Katers, der Wissenschaft als Ideologie und Manipulationsinstrument begriff. Der eigentliche Skandal der Salzburger Damnatio memoriae bestand also in Sachen Orff darin, dass die Durchstreicher nicht informiert waren, aus dieser Fehlinformation aber den Zorn zogen, mit Billigung der Universitätsleitung das Andenken eines Künstlers zu schädigen, dem man höchstens vorwerfen könnte, dass er nicht ins Exil ging (ein von eigenen Erfahrungen unbeleckter Vorwurf), sondern seine Karriere verfolgte: ohne jegliche Anbiederung an die NS-Ästhetik oder -Ideologie. Gegenbeweise erbeten.
Die Fragen aber bleiben, leider, aktuell, denn im Moment, so Rösch, steht die Welt, steht auch Europa zunehmend unter dem Druck rechter Regierungen und Strömungen. Wie kann man sich als Künstler in totalitären Diktaturen verhalten? Und wie geht man aus der Rückschau mit den damaligen Verhaltensweisen um? Für beide Fragen gibt es keine idealen Antworten in Zeiten, in denen Musiker unter öffentlichen Druck geraten, wenn sie sich, aus persönlich nachvollziehbaren Gründen (Familienrücksichten, Karriererücksichten, sonstige Furcht), nicht explizit für oder gegen einen Diktator aussprechen, siehe Gergiew, Netrebko, Currentzis. Früher nannte man das „Hexenjad“… Am Ende aber wird klar, dass es schon viel taugt, wenn man auf einer eigenen Überzeugung beharrt und sich den Verlockungen der Macht so gut wie möglich erwehrt. Sissy Thammer bringt am Ende noch die Tendenzen der gegenwärtigen Influencer-Kultur in das Kamingespräch; da lauern tatsächlich Gefahren, die denen einer totalitären Meinungsmache wenn nicht gleich, so doch manchmal verwandt erscheinen.
Mag sein, dass es gerade die Kunst mit ihren Differenzierungen ist, die gegen Verführungen immun machen könnte. Geglücktes Werk und durchschnittliches Leben, geniales Opus und problematische Biographie sind, aufs Ganze gesehen, eben immer, selbst und gerade bei den größten Künstlern, untrennbar miteinander verknüpft: im Guten wie im weniger Guten. Wir sind in Bayreuth, wer wüsste das nicht?
Dies nur als Telegramm nach Salzburg geschickt.
Latino Sacro. Konzert mit lateinamerikanischer Sakralmusik
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Stadtkirche Bayreuth, 11. August 2024
Ein Programm an zwei Orten – das ergibt zwei verschiedene Konzerte.
Es ist immer wieder erstaunlich: Da hört man dieselbe, von denselben Musikern gespielte und gesungene Musik – und es ist ein wenig, als hätte man zwei verschiedene Aufführungen besucht. Es ist ja auch so. In der mit fettem Stuck dekorierten und ein wenig kleineren Klosterkirche Speinshart klingt die Musik durchaus anders als in der dekorationsfreien spätgotischen Stadtkirche. Wo die Nachhallzeit ungefähr vier Sekunden beträgt, klingt ein Ensemble natürlich anders als in einem Raum, in dem die Ornamente, Skulpturen, Wandausstattungen und Raumschwünge den Klang merklich abdämpfen. Nein: In der Bayreuther Stadtkirche klingt es an diesem Abend nicht schlechter, weil wolkiger – nur anders. Wenn also der Chor der Capella Transylvanica den ersten Satz der Misa Criolla des Ariel Ramirez anstimmt, verwandeln sich die Engelsstimmen der Sängerinnen in pur ätherische voces caelestes. Es tönt geradezu magisch in den Raum – nicht weniger und nicht mehr bezaubernd als am Vorabend in der Oberpfalz, nur eben anders, auch monumentaler, als hätte es noch eines Beweises bedurft, dass es keine gleichen Konzerte gibt. Kein Wunder, dass das Publikum im fast bis auf den letzten Platz gefüllten Kirchenschiff am Ende tosenden Applaus gab.
Der Anfang aber machten nicht die Jungen, sondern die ganz Jungen. „Mutter Dollhopf, komm mal her“, ruft die Intendantin Sissy Thammer und weist der „Mutter“ einen Platz zu Seiten ihrer drei kleinen Kinder zu. Jonathan, Cosima und Anton, so heißen sie, auch sie werden am Schluss den Künstlerinnen und Künstlern Rosen überreichen. Einst war „Mutter Dollhopf“ beim Festival zugange, nun stehen ihre Kinder am Ort, um die Tradition fortzsetzen; Heinz Otto ist Schirmherr des Education-Programms, in dem am Vortag das „Zaubertheater“ über die Bühne des Zentrums ging. „Ich werd“, sagt Sissy Thammer dann latent inoffiziell, „immer dümmer, die Festspielzeit zehrt“, aber keine Bange: Sie zehrt nicht aus. Was am Abend den Gästen kredenzt wird, ist sensationell.
Wieder singen die Rumänen unter ihrem Festival-Chorleiter Fred Sjöberg, wieder wird der Chordirektor Professor Cornel Groza am Ende von „seinen“ Sängern frenetisch gefeiert; schön zu hören. Wieder stehen Isabel Grübl und Jasmina Aboubakari auf der Bühne, vor dem Chor, links vom kleinen Instrumentalensemble, aber nun hat alles einen orchestraleren Anstrich. Erstaunlich, wie in der Akustik aus vier wohltönenden Streichern plötzlich ein wohltönendes Streichorchester wird. Der preisgekrönte Mezzosopran (2. Preis beim Internationalen Carl-Orff-Gesangswettbewerb des Orff-Zentrum München, 2. Preis und Sonderpreis des Richard-Strauss-Instituts Garmisch-Partenkirchen, Sonderpreis des Festivals Junge Künstler…) singt, um nur auf ein Solostück hinzuweisen, in Martin Palmeris Misa Tango ein Qui tollis, dass man dahinschmelzen könnte, was gewiss nicht allein an der begleitenden Solovioline Bahram Dolyyevs liegt.
Leider hat Aboubakari nur in Ramirez’ Messe ihre Einsätze, aber auch die lohnen schon den Besuch. Zusammen mit Isabel Grübl bildet sie ein Duo, dem man stundenlang zuhören könnte, aber bedaurlicherweise ist Ramirez’ Messe ein wenig kürzer als die seines argentinischen Komponistenkollegen. Wieder zieht der Tango in die Kirche ein, und wieder könnte man beim Credo tanzen. Tanz in der Kirche: das war ja schon im Konzert des turkmenischen Ensembles in Speinshart ein Thema; so kreuzen sich die Programm unter dem Sternzeichen Süd- und Mittelamerikas. Die erstaunlichste Kreuzung aber begegnet gleich zu Beginn der Misa Tango. Bach in Buenos Aires – ich stelle mir vor, wie JSB durch die Suipacha, Richtung Kathedrale, läuft, um am Wegesrand noch einigen Tangosängern zuzuhören … Palmeri hat es in einzigartiger Weise verstanden, Bachs Fugati mit der originären Sprache seiner Heimat zu verbinden, um beispielsweise ein höchst originelles „Kyrie eleison“ zu schaffen. Der Chor, der vor ein paar Tagen lange an den einzelnen Phrasen eben dieses Satzes arbeitete, zeigt nun, wie gut dies in einer weithalligen Kirche zu klingen hat. Diese hierzulande wohl kaum gesungene Messe nun zweimal in Bayreuth und Umgebung, aufgeführt von rumänischen und deutschen Sängern und turkmenischen und brasilianischen Instrumentalisten zu hören, um etwas live von der argentinischen Kultur mitzubekommen, ist alles andere als selbstverständlich. Und wenn eine deutsche Sängerin, die zuvor auch als Stimmtrainerin und Probendirigentin und im Konzert selbst als Percussionistin tätig ist, den Solopart in Heitor Villa Lobos’ fünfter, vom turkmenische Streichquartett und dem Pianisten Lucca Verdi Pires mitgestalteten Bachiana brasileira wunderbar singt, kapiert selbst der letzte Besucher, dass auch dieses Konzert nicht nur deshalb unwiderholbar ist, weil dem Pianisten nun kein gutes Keyboard, sondern ein veritabler Steingraeber zur Verfügung steht.
Das Panorama erstreckt sich wieder vom Summchor über ein triumphales Gloria zum verklingenden Dona nobis pacem, doch nun ein wenig verwandelt, gleichsam größer (nicht besser, aber auch nicht schlechter als in Speinshart) und scheinbar allgemeingültiger. RIESEN-Beifall nach einem bewegenden anderen Latino-Sacro-Konzert: mit fröhlichen wie ernsten Musikern und einem Publikum, das gegen eine kleine Spende Weltkultur serviert bekommt.
Latino Sacro. Konzert mit lateinamerikanischer Sakralmusik
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Speinshart, Klosterkirche, 10. August 2024
Alle haben sichtlich Spaß: die Sängerinnen und Sänger, der Dirigent, nicht zuletzt die Besucher.
Spaß beim Anhören einer Messe? Doch, den kann man haben, auch wenn Ariel Ramirez‘ „Misa Criolla“ ein Werk der geistlichen Musik ist. Freilich handelt es sich um ein Stück, das den Swing als erstes Element in sich hineingebaut hat. Er lässt leicht vergessen, dass der argentinische Komponist sein populärstes Opus zum Gedenken an zwei Schwestern schrieb, die während der NS-Zeit bei Todesstrafe in der Nähe eines Klosters KZ-Insassen mit Nahrung versorgten. Ramirez erfuhr diese Geschichte, als er in den 50er Jahren in Würzburg lebte, wo sich diese Ereignisse abgespielt hatten. Auch deshalb ist es sinnreich, dass die „Misa Criolla“ heute in einer bayerischen Klosterkirche aufgeführt wird. Die Speinsharter Kirche ist ja sowieso der akustisch, ästhetisch und geistlich ideale Raum für so etwas wie eine folkloristische Messe.
Vor dreißig Jahren war sie das letzte Mal in einem Konzert des damaligen Jugendfestspieltreffens in der Bayreuther Stadtkirche zu erleben. Nun steht die Capella Transylvanica im Mittelpunkt des musikalischen Geschehens. Ursprünglich sollten die 30 jungen Leute zusammen mit einem philippinischen Chor auftreten, doch die Unbilden des Verkehrs – die Philippinen strandeten in Ungarn - verhinderten deren Anreise. Der siebenbürgische Chor wurde also aufgestockt, und siehe da: Es ging auch ohne die Leute aus Manila. Das macht: auch die stupende Qualität der rumänischen Sängerinnen und Sänger. Kein Wunder, dass der Dirigent Fred Sjöberg, dem Cornel Groza bereits vorgearbeitet hat, beständig mitswingt und sichtlich animiert ist. Beim „Gloria“ schunkeln sie sich hinein – und es ist, o Wunder, nicht peinlich. Gitarre, Kontrabass, Keyboard und die drei Percussionisten, unter ihnen die Sopransolistin Friedamaria Wallbrecher, die später das Solo in Villa Lobos‘ „Bachianas brasileiras No. 5“ singen wird, haben, wie gesagt, alle Spaß am Ramirez. Wieder erweist sich die Güte der Choristen. Da klingen – pardon, so viel Pathos muss sein – Engelsstimmen in den Raum, die die Abwesenheit der Manilaner sofort vergessen machen.
Ganz anders tönt dann Martin Palmeris jüngere „Misa Tango“ in die Klosterkirche, aber auch hier funktioniert die Einbettung in den Raum, als sei sie für ihn geschrieben worden.
Der Rhythmus der eigentümlichen Tangomesse passt gut, nein: sehr gut in das üppig wuchernde oberpfälzische Barock.Man wird daran erinnert, dass sich die südamerikanische Populärmusik auch den Einflüssen verdankt, die im 18. Jahrhundert mit den Musikern der Kunstmusik auf den Kontinent schwappten. Scheinen die heiligen Männer zu Seiten des Altars und im Langhaus nicht mitzutanzen? Schwingen sie nicht gerade ihre Körper und Soutanen und Pellegrinas, wenn der Mann am Bandoneon, Victor Hugo Villena, gerade die nächste Milonga, also die nächste Runde eröffnet? Zweifellos.
Die Musik kommt hörbar an, vor dem „Sanctus“, nach dem „Amen“, schollert schon der erste Applaus in Richtung Chor und Chorraum. Cornel Groza beobachtet immer wieder Fred Sjöberg: Macht er seine Sache gut? Oder anders: Wie führt der „seinen“ Chor durch den Abend? Ganz hervorragend, am Ende lächelt der rumänische Musiker ziemlich glücklich, weil auch mit dem abschließenden Fugato des „Dona nobis pacem“ das Vokalensemble seinen hohen Rang (was für eine Sicherheit, was für eine Stimmschönheit!) bewiesen hat – so wie die turkmenischen Streicher, die hier vor ein paar Tagen ein glänzendes Solo-Programm spielten und nun zusammen mit den Rumänen ein neues Ensemble bilden. Festival junger Künstler eben, nicht zuletzt mit den jungen Sängerinnen Isabel Grübl, die schon beim Klimakonzert ihren Mezzo beisteuerte, und dem Sopran Jasmina Aboubakari. Besser kann man Ramirez, wohltönender, klarer kann man Palmeri nicht singen. Standing Ovations also für einen musikalischen Abend, der, man muss das nochmal betonen, wie geschaffen scheint für den Raum der barocken Klosterkirche, woran man sieht, dass das Kulturverbindende denn doch – abgesehen vom Essen und vom Trinken (Empfehlung: das köstliche Speinsharter Klosterbier) – in erster Linie über die Musik geht: auch mit lateinamerikanischer Gitarre und Gitarristen (Daniel Molina Eyzaguirre). Der Speinsharter Bürgermeister Albert Nickl, auch Mitglied im Vorstand des Fördervereins des Klosters Speinshart, freut sich ja zurecht auf die alljährlichen Auftritte des Festivals junger Künstler – und das Publikum weiß, was es zu erwarten hat, wenn „die Turkmenen“, „die Rumänen“ oder „die Argentinier“ hier auftreten: im Blick der alten großen Heiligen und einer Maria Immaculata, die, wenn ich mich nicht täusche, nicht allein während der zauberhaften Bach-Variation des Heitor Villa Lobos zart gelächelt hat.
Zaubertheater
Dr. Frank Piontek - Bayreuth, Das Zentrum, 10. August 2024
Verkehrte Welt? Mitnichten? Oder doch – aber dafür eine ZAUBERHAFTE „verkehrte“ Welt.
Es ist ja immer wieder beglückend, jedes Jahr den Nachwuchs, die Jüngsten zwischen fünf und elf, die neuen Festspielkinder zu erleben. Was sie nach einem drei Tage dauernden Intensiv-Workshop präsentieren, dauert in der Regel nur ein hübsches Viertelstündchen – aber das hat es in sich. Was? Humor, Poesie, Weisheit, nicht zuletzt die Sehnsucht nach Frieden. So betrachtet ist auch das diesjährige Zaubertheater des Kinder-Workshops, das im „Zentrum“ über die Bühne ging, ein politisches Theater – nur ohne die Einschränkungen und Scheuklappen, die sich die sog. Erwachsenen auferlegen oder auferlegen zu müssen glauben.
Wieder hat Maximilian Ponader, zusammen mit Lisa Claire Stolzenberger, ein Spiel arrangiert, in dem die die 18 Akteurinnen und Akteure wie von selbst zusammenfanden. Diesmal ging es, indem man sich an Ludwig Tiecks zauberhaft kuriose Komödie von der „verkehrten Welt“ erinnerte (über zwei Jahrhunderte alt, aber immer noch putzmunter), um ihr „Zaubertheater“ genanntes Stück zu performen. Diesmal wählten sie die Form des traditionellen Schattentheaters, doch nicht, um Tiecks Stück nachzuspielen. Gezeigt wurde also ein Märchenstück, das die Grundidee des romantischen Dramas variiert und Fragen stellt, die man sich im Zeitalter der Ungewissheiten immer noch stellen muss: Wie sähe eine Welt aus, die auf den Kopf gestellt wird und in der plötzlich völlig andere Regeln gelten? Und also sehen wir ein Stück, in dem beständig falsch zaubernde Hexen einen Grundkurs in Sachen Zaubern absolvieren müssen – denn wer hat schon Lust, statt kleinen Hasen große Drachen herbeizuzaubern? Da braucht es einen Lehrer. Ein guter Zauberer tritt auf, man streitet sich, wen von ihnen er unterrichten solle, doch er weiß, dass er ALLE unter seine Fittiche nehmen muss, um keine zu schädigen. Nun gibt es aber auch einen netten Drachen – der, der einer guten Fee und ihren Prinzessinnentöchtern gehört. Das Haustier ist verschwunden, man, besser: Frau fragt einige Gespenster, die lustigerweise erzählen, dass sie das nette Tier als Fußball benutzt und nicht weniger als zehn Kilometer weit geschossen hätten. Auf weitere Nachfrage erfahren die Kinder, dass die Gespenster das Kerlchen dann sogar gefressen hätten.
Große Empörung, logisch. Die durchaus nicht netten Gespenster verwandeln sodann die guten Feen in Eis, aber der Zauberer verwandelt sie, weil er eben in jedem Sinne ein guter Zauberer ist, die Damen wieder zurück; auch den Drachen geht’s gut, weil die Geister gelogen hatten. „Alle glücklich!“, wie es im Pressewaschzettel der Produktion heißt. Am Ende schlägt der Zauberer - „pädagogisch wertvoll“ - vor, dass eine Party gefeiert wird und alle sich verbrüdern. Die Party auf der Bühne schwappt also von der Bühne in den Zuschauersaal, wo die Eltern und Geschwister der kleinen Spielerinnen und Spieler sitzen. Finale: Kuchenfeier! Da können selbst missgünstige Gespenster nicht Nein sagen.
Es sind immer wieder die Mischungen aus Spaß und Ernst, die die Stücke des Kinder-Workshop-Programms so vergnüglich machen. Im Grunde sagt ja jedes gute Theaterstück, jede gute Oper nur das Eine: Habt Euch lieb. Leicht gesagt, aber schwer gemacht. In Bayreuth lernen immerhin 18 Kinder von fünf bis elf, wie das zusammen geht, indem sie die Theaterideen zusammen entwickeln und die Materialien, die Requisiten und die Texte, zusammen basteln, überhaupt alles sich selbst zusammen richten, um die Grundfragen verwandelt in Szene zu setzen: Singen Menschen miteinander, anstatt zu sprechen? Ist es eine Welt ohne Geld? Eine Welt ohne Grenzen? Im Grunde geht’s dabei um eine sehr kindliche wie zeitlos menschliche Hoffnung: Wie unsere Welt für alle Menschen fröhlicher sein kann. Und wenn dazu die Musik eines Dmitri Schostakowitsch eingesetzt wird, haben selbst jene Erwachsenen Spaß am Stück, die sonst eher „klassisch“ unterwegs sind. Durchaus nicht nebenbei: das Projekt konnte auch heuer mit der Hilfe des Schirmherrn Heinz Otto Dollhopf, unterstützt vom Festival-Vorstandsmitglied Angela Trautmann-Janovsky, verwirklicht werden. Und wenn am Ende der Bayreuther Bürgermeister Andreas Zippel, wie immer frohgelaunt, jedem Kind eine Urkunde überreicht, weiß man spätestens zu diesem Zeitpunkt, dass Kunst, Gesellschaft, Kindlichkeit, Ernsthaftigkeit, Engagement und Soziales, damit auch die Hoffnung auf eine gute Zukunft, untrennbar zusammengehören. Eben ganz wie in der richtigen Welt des Zaubertheater.
Klimakonzert: Die vier Jahreszeiten - durcheinander
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Ordenskirche St. Georgen, 8. August 2024
Frage an Radio Bayreuth: Gibt es etwas Schöneres als den langsamen Satz in Vivaldis Concerto „Il Gardellino“ RV 428? Antwort: Im Prinzip nein…
Wenn Sophia Schambeck an einer ihrer Blockflöten das Larghetto cantabile seeeehr sanglich spielt, wissen wir, dass wir in einer idealen Musik zuhaus sind. Gespielt in einem auch akustisch idealen Raum, dem Barockraum der Ordenskirche in St. Georgen, offenbart sich die Musik auf eine Weise, wie sie kaum in einem modernen Konzertsaal erreichbar wäre. Die goldene Abendsonne leuchtet zu den Westfenstern in die Kirche hinein, das Haus ist voll, die Bayreuther sind gekommen, um sich ein „Klimakonzert“ anzuhören. Das Klima ist gerade, wir wissen es alle, nicht ideal, aber vielleicht war es das schon zur Vivaldi-Zeit nicht; der bellende Hund mag davon wissen. Er klingt schon in Johannes X. Schachtners Prolog hinein, dem die Sopranistin Isabel Grübl mit einer Vertonung des Primavera-Sonnetts antwortet. Die vier Gedichte, die Vivaldi seinem Jahreszeiten-Zyklus einschrieb, wurden bis jetzt nicht vertont. Man fragt sich unwillkürlich, wieso erst Schachtner, der seine Kompositionen am Abend dirigiert, auf die Idee kam, sich an die Arbeit zu machen. So entstand ein Zyklus, der in Einzelteilen zwischen die separaten Teile der Vivaldi-Concerti erklingt: nicht als Unterbrechungen, sondern stets mit sanften wie passenden Übergängen versehen. Da wird originales Material zitiert – Melodien und Klangflächen –, da singt die Sängerin einmal ein paar Zeilen auf die originale Musik des dazugehörigen Vivaldi-Stücks, da setzt der Neutöner die Vorlage um einige Noten nach unten und verlangsamt sie gleichzeitig. Dem Klima, hört man, geht’s nicht gut. Zwischeneingelegt: Das Gardellino-Konzert, das „La notte“-Concerto RV 439 und ein „Sonetto senza parole für Bassblockflöte und Barock-Ensemble“, eine Uraufführung für’s Festival. Angefangen aber hat es nicht mit Musik – oder doch, ein bisschen –, sondern mit der kleinen Intro „Wo Himmel und Erde sich küssen…“ von Frank Piontek. Diesmal standen Johanna Park und Antonia Seidl, zwei Damen des Stepping Stone-Programms, am Mikro, um über den Zusammenhang zwischen Raum und Musik zu sprechen: „Da kommt alles zusammen: der Geist“ „und die Materie. Das Gefühl“ „und die Geigen. Die Trompeter, die Pauker, das Licht und die Sehnsucht.“ Die erste Geige hörte man schon dort, Robert Schröter, an der Violine aus dem frühen 19. Jahrhundert, zitiert, auf der Orgelempore stehend, schon mal eine kurze Passage des Konzerts, bevor die barfüßige Sophia Schambeck gleichsam unbesohlt mit ihrem Solo beginnt.
Die Bearbeitung des Allegro non molto aus dem Winter-Konzert in der Bearbeitung J.X. Schachtners: da begegnen sich bereits das „Alte“ (das nicht alt ist) und das „Neue“ (das zuweilen vertraut klang). Am Ende wird in einem Epilogo die kleine Flöte, an der Südtür stehend, einen letzten, kurzen Einwurf machen. Schambeck hat sechs Flöten im Gepäck: von der kleinsten Piccolo- zur größten Bassblockflöte, die sie im Sonnett ohne Worte spielt, als gälte es, über dem eisigen Grundrhythmus des Winter-Konzerts einen Bolero zu improvisieren, bevor Isabel Grübl in der Inverno-Vertonung darauf reagiert, indem sie einzelne Silben ausstößt.
Überhaupt die Instrumente! Während Schröter auf einer Geige des frühen 19. Jahrhunderts spielt, haben die anderen Musiker und Musikerinnen Nachbauten alter Instrumente in den Händen: bezogen mit Schafdarm („Vegan sind sie nicht. Aber sie klingen gut“), gespielt mit historisch geformten Bögen. Das Cembalo kommt aus der Werkstatt Bernhard Tuchers („Schloss Leitheim“), Nürnberg ist plötzlich ganz nah, doch auch hier stößt die Frühzeit auf die Moderne. Der Instrumentenbauer hat das Vorbild aus der Instrumentensammlung des Germanischen Nationalmuseums um ein weiteres tiefes „g“ ergänzt, dessen Taste sich witzigerweise auf der selben Ebene befindet wie der des benachbarten höheren Tons. Der Nachteil der Instrumente besteht nur darin, dass oft nachgestimmt werden muss. Der Beifall aber ist, nach dem ersten Teil und dem Schluss, gewaltig – also auch hier: Gute Stimmung. Die sechs Kammermusiker produzieren einen mal betörend rauen, mal weichen, manchmal scharfen und immer durchsichtigen Klang, der sehr fragil scheint – fragil wie das Klima. Und wieder bleibt es erstaunlich, was man und frau aus simplen Dreiklangsbrechungen und Sequenzierungen an Ausdruck herauszuholen vermag: vorausgesetzt, es geschieht, wie am Abend, mit echter Verve.
Der Rest ist eine Mischung aus Expressionismus und Impressionismus. Sophia Schambecks Lächeln reicht von der West- zur Ostpforte, nach dem ersten Primavera-Satz werden allein sie und Isabel Grübl von der Abendsonne gold beleuchtet. Mag auch das Klima im Moment das Problem der Menschheit sein – ein Klimakonzert dieser dramaturgischen und musikalischen Güte lässt eben dieses Problem für einen glücklichen Moment vergessen.
Offene Unterrichtsstunde für Operngesang
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Musikhochschule für evangelische Kirchenmusik, 7. August 2024
Eine Veranstaltung des RC Bayreuth Eremitage und des RC Bayreuth.
„Wer möchte anfangen?“ Die Frage ist, bei zwei Teilnehmerinnen, zwar nicht rhetorischer Natur, aber schnell entschieden. Stephan Jöris stellt sie: zu Beginn der offenen Unterrichtsstunde mit den beiden Sängerinnen Esther Gresswell und Rachael Joyce. Wir sitzen im Orgelsaal der „Kimu“, auf dem Programm stehen sieben Komponisten und 10 Stücke, aber in der einen Stunde („Nur eine Stunde“, denkt sich der Wagnerianer, der gerade an den „Parsifal“ denkt) können natürlich nicht alle Werke „durchgenommen“ werden, wie es im Probendeutsch heißt. Im Übrigen handelt es sich auch um eine Veranstaltung des örtlichen Rotary-Clubs, deren Mitglieder heute Abend vielleicht alle auf dem Hügel zu finden sind; „Parsifal“ ist ja auch eine ganz hübsche Oper.
So wie „Le Nozze di Figaro“, nur anders? Gewissermaßen, ja. Der Teufel steckt auch hier im Detail. Die beiden Künstlerinnen, begleitet vom Pianisten Lucca Verdi Pires, einem jungen Mann aus Brasilien, singen zunächst das bezaubernd-entzückende Briefduett aus dem dritten Akt durch. Mezzo und Sopran, das ist, sagt Jöris, eine sehr seltene Stimmkombination im klassischen Fach. Dann geht es an die Arbeit. Der Regisseur korrigiert, was heißt: auch musikalisch, denn gestische Akzente, so lernen wir, gehen auch mit akustischen einher. „Die haben das selber ausgedacht“, kommentiert Jöris die Motivation für die Szene und plädiert für das Wichtigste: für Deutlichkeit. Was bedeutet es, wenn die Gräfin von den „Pinien“ singt, wie reagiert Susanna darauf, wie muss die Haltung sein, wenn beide schließlich in Terzen singen, die müssen sie stehen und sich anschauen? Wichtig: „Das muss man sehen“. Gänge müssen geklärt werden: Wo schreibt Susanna? Mit welcher Aufmerksamkeit? Mit welcher Ruhe? „Das war’n bisschen nervös“, das muss nicht sein, der Gräfin sollte man ansehen, dass sie gerade nachdenkt. Nebenbei kommt auch Grundsätzliches zum praktisch-theoretischen Vorschein: Nie im Theater bestätigen! Am Ende der 20 Minuten langen Probe steht ein kühner Satz: „Da kann man noch unheimlich viel reinpacken.“ Es stimmt, für eine gespielte Minute braucht man szenisch ca. eine Stunde.
Dann die Lieder. Auch sie müssen „performt“ werden, auch sie müssen artikulatorisch klar vermittelt werden, auch wenn ein australisches „Arr“ – ein Laut, der kaum in Buchstaben gefasst werden kann – manchmal dagegen spricht. Mit Gresswell probt Jöris Clara Schumanns „Die stille Lotusblume“ und Brahms’ „Wie Melodien“, mit Joyce Clara Schumanns Heine-Lied „Sie liebten sich beide“ (eine Tristan-Geschichte, sagt der ehemalige Mitarbeiter der Bayreuther Festspiele). Sie müsse, sagt der Regisseur beim Brahms, als Blumenverkäuferin die Leute anlächeln. „Du gehst jetzt durch die Reihen und verkaufst jedem das Lied.“ Und also geht Gresswell durch die Reihen und lächelt; auch beim Orlowsky der „Fledermaus“ wird direkte Publikumsansprache und Aussprache gepaukt. Fürs Vergnügen erklingt dann noch „I could have dance tonight“, aber da es zunächst englisch, dann deutsch zu singen ist, ist auch dies für Joyce eine Übung. Der Rest ist Text. Mit einer Dreierszene aus den „Lustigen Weibern von Windsor“ wird eine Komödie geprobt, deren Witz wie üblich im kleinsten Detail liegt. „Ich hab’s mal übertrieben angelegt“, das sieht man dann.
Nichts ist selbstverständlich im Theater: kein Gang, keine Geste, keine Haltung, kein Ton. Bevor man buht oder Beifall spendet, sollte man sich dieses Gesetz gelegentlich klarmachen – wie am Abend in der Kimu.
Probe für Latino Sacro
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, WWG, 7. August 2024
„Very good! Good sound!“ Fred Sjöberg springt auf, sichtlich begeistert von den jungen Sängerinnen und Sängern, die in der Aula des WWG sitzen, um das große Konzertprogramm namens „Latino Sacro“ einzustudieren.
Im Programm steht sein Name, aber heute wirkt er, sichtbar freilich, im sog. Hintergrund, dicht hinter der Dirigentin sitzend, während Cornel Groza, der Leiter der Capella Transylvanica, sich „seinen“ Chor von den Stuhlreihen aus anhört, bevor er nach draußen schlendert; so viel Vertrauen muss sein. Die Frau an der Spitze heißt heute Friedamaria Wallbrecher, sie motiviert die Musiker und führt sie durch die Müdigkeiten des frühen Nachmittags. Auf dem Plan steht das „Kyrie eleison“ aus Martin Palmeris „Misa Tango“, es geht, wieder einmal – bevor die Kunst kommt – um Basales: Aussprache, Akzente, Lautstärke. Die Stellschrauben werden freundlich, aber betont eingestellt, die Dirigentin verleiht ihren Anweisungen mit großer Körpersprache Ausdruck: nicht allein „for the altos in bar 95“. Das „Christe eleison“ muss weicher klingen (sofort klingt es weicher), es muss für die Tenöre mehr espressivo, aber nicht zu lang sein (es klingt sogleich espressivo, aber nicht zu gedehnt).
Die Anweisungen sind „eigentlich“ ganz einfach: Man muss das, was man singt, auch fühlen. Man muss steigern – aber nur ein wenig; der liebe Gott steckt mal wieder im Detail. „A little faster“, sagt sie. One thing for the tenors, two for the sopranos, zusammen passt es. „It sound’s very fantastic. I’m vrry happy“, ruft Sjöberg dem Ensemble aufmunternd zu – aber das „r“ in „Gloria“ muss noch ein wenig errriger gebracht werden, im „Resurrexit“ der Zwischenzielpunkt des „Gloria“ ausgesungen werden. Kein Problem für die Sängerinnen und Sänger aus Rumänien, die an der richtigen Stelle wissen, was das ist: „Just flow“. Die Betonung liegt auf „flow“, dann fließt es, als könne die Musik gar nichts Anderes als fließen. Und immer wieder: Aussprache, Akzente, Lautstärke. Und wieder ein Sprung, die nächste Stelle, der nächste etwas heikle Takt, die nächste Nuance, die nächste Steigerung.
Es wird, denkt sich der stille Beobachter auf seinem Galerieplatz. Es wird sehr schön werden, am Samstag, wenn Speinshart das Ergebnis dessen hören wird, was heute Nachmittag schon mal durchgeprobt wurde, bevor es am Abend seine spannungsreiche wie entspannte Steigerung finden wird.
Bunter Abend für Bayreuth
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Wilhelminenaue, Kulturkiosk, 6. August 2024
„Ich hatte die verrückte Idee“, sagt Coco Sturm, „den Bayreuther Abend lassen wir uns nicht nehmen“. Der „Bayreuther Abend“: das ist das traditionelle Fest, das das Festival junger Künstler für „die Bayreuther“ gibt. Dieses Jahr wurde daraus nichts, die Kasse blieb leer, weil der projektbezogene städtische Zuschuss heuer ausblieb, aber egal, oder anders: umso schöner. Denn was am Abend im Kulturkiosk am See in der Wilhelminenaue vor sich ging, hätte schöner kaum sein können.
Kein Wunder, oder doch: Die Sonne stand überm See, am Ende sangen die Sänger und spielten die Spieler vor dem mild untergehenden Gestirn. Ein Stück Italien in Bayreuth, vielleicht auch ein Stück Norden. Angekündigt war ja „nur“ ein Konzert mit dem Ensemble „Blaurosa“. „Klassik recycled“ heißt ihr Programm, das sie im Zelt bringen (ein Keyboard, ein Mikro, zwei Ledersofas und zwei Violinen), vorn stehen die Sängerin Caroline Adler (die am Vorabend in „Alte Ohren – Neue Augen“ vor einem viel zu kleinen Bayreuther Publikum brillierte und bewegte), der gelegentlich singende Komponist und Keyboarder Andreas Begert und die beiden Geigerinnen Anna I und Anna II, wie Brecht sie vielleicht genannt hätte: Anna Godelmann und Anna-Sophia Kraus. „Pop & Klassik“, so heißt ihr Programm im Untertitel, das klingt nach „Cross over“, und „Cross over“ kann etwas sehr sehr Schreckliches sein. Nicht hier, denn die kleine Band, die sich ihre eigenen deutschsprachigen Songs schreibt, prunkt durch Kompetenz und Charme, der Lockerheit luftig gedichteter Textzeilen und der Sicherheit, mit der sie – nein, nicht „Klassik“, sondern einfach „nur“ gute Musik zum Besten geben. „Ah! Non credea mirarti“ aus Vincenzo Bellinis „Sonnambula“ mischt sich mit „Wie die Dinge weitergehen, wenn sich Bauch und Kopf umdrehen“, Monteverdis „Mortal cosa son io“ aus dem „Ulisse“ mit „Gestern noch weit weg“, Schumanns „Lotusblume“ folgt auf „Die Welt fühlt sich so nice an“. Schwerpunkt aber sind die Liebes- und Verliebtsein-Lieder, „Und alles zieht vorbei, und ich bin verliebt, aber nur leicht“, singt die jungte Frau am Mikro, ein Lebensgefühl einfangend, das ja auch ein Gefühl dieses Festivals ist. Musik und Leichtigkeit, positive Liebeslieder und akademische Versiertheit kreuzen sich, auch wenn viel Probenschweiß dahintersteckt. Die beiden Violinistinnen spielen eine Gavotte von Schostakowitsch, sie steht zwischen der freundlichen Aufforderung, mit einem kurzen „Hallo“ das Glück heranzuholen und dem vielleicht daraus resultierenden Gefühl, über der Stadt zu schweben.
„Hat jemand ein Taschentuch“, fragt Adler, nachdem sie mit „Was bleibt, wenn du gehst“ (langsamer Walzer …) in eine etwas – nein, nicht tiefere, aber andere Kiste gegriffen hat. Beim Zwiefachen fängt Cornel Groza, der Chorleiter des siebenbürgischen Vokalensembles, der der Musik freundlich-aufmerksam zuhört, plötzlich an zu lächeln. Adler wiegt sich in die Musik hinein, und manchmal schaut der Keyboarder in die Ferne, als sähe er zum ersten Mal die Sonne aufgehen – oder die Liebe seines Lebens.
„Wer von Euch kommt aus der Oberpfalz?“, fragt Sissy Thammer, und als sich nicht weniger als zwei Hände – die der beiden Annas – heben, juchzt das Zelt. Draußen geht’s weiter, die Capella Transylvanica stellt sich auf den Kies und bringt Heiteres vor, dann kommen die Turkmenen, diesmal die fünf Streicher, und überwältigen uns mit ihren populären Stücken aus der Heimat und mit Tangogrüßen aus Argentinien. Der Rest ist persisch. Die drei Damen haben sich mit ihren schön bestickten und glitzernden Westen (unten die obligatorischen Sneakers) auf die Zeltbühne gesetzt, um schließlich einige hinreißende klassische Stücke aus ihrer Heimat hinreißend zu spielen. Sie dürfen, sagt Fredrik Schwenk in seiner Ankündigung, in ihrer Heimat nicht öffentlich musizieren, weil auch dies den Frauen nicht erlaubt ist. Ich denke: Ein Land, das den Frauen das öffentliche Musizieren verbietet, ist verloren. Umso schöner, dass sie’s hier dürfen; der Beifall ist denn auch gewaltig.
Abendsonne überm See, dann das Dunkel, das keines ist. Und vielleicht ein letzter „Flamingo“: rosa, nicht blaurosa, aber das ist ja auch ganz schön. Wie gesagt: Der „Bayreuther Abend“ fiel eigentlich ins Wasser. Dass ein „Bunter Abend“ draus wurde: Es ist schon, sagt Coco Sturm, eine kleine Revolution – und alles andere als selbstverständlich.
Man musste halt „nur“ zur Zukunft „Hallo“ sagen …
Alte Ohren - Neue Augen. Barockmusik in Szene gesetzt.
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Das Zentrum, Europasaal, 5. August 2024
Dass, wie der Feuilletonist zunächst schrieb, die Follia di Spagna keine Follia di Spagna, sondern der „Dance for the Chinese Man and Woman“ aus Henry Purcells „Fairy Queen“ war – geschenkt. Denn zu Beginn des „Alte Ohren“-Abends konnten die relativ wenigen Besucher im Zentrum eben jenes Stück hören, das drei Tage zuvor den musikalischen Teil der Fiesta Franconia eingeleitet hatte. Sie konnten es hören – und sehen, denn „Barockmusik in Szene gesetzt“, das sagt ja schon viel. Und also schob Ophelia Flassig von Neuem den Viooloncellisten Augustin Geer auf dem kleinen Rolltisch durch den Europasaal, gefolgt von den drei anderen Streichern. Wie nennt man das? Wundersam.
Kunst in Bewegung, Musik in Motion, um E-motion zu befördern: so könnte das geheime Motto des Abends lauten. Die Musiker des Streichensembles Thalia reagieren auf die Linien der Musik, stehen in Heinrich Ignaz Franz Bibers „Mensa sonora“ buchstäblich vom wohlklingenden Tisch auf, um ihren Auf- und Abschwüngen optischen Ausdruck zu verleihen, zu verstärken, zu akzentuieren. Vielleicht wurde ja schon zu den Zeiten des Salzburger Kapellmeisters derartig witzig mit der Musik gearbeitet, wer weiß, aber auch so kann man die Zeiten durchbrechen, in denen „alte“ Musik nur neu sein und „neue“ Musik aus „alter“ entsteht. Das klingt dann auch gelind anders; eine Raum-Musik hat andere Gesetze als eine statische, logisch. Das ist einfach – und stimmig. Wenn dann der Sopran auftritt – eine Hand bewegt sich aus dem blutroten Vorhang heraus , wird’s fesselnd. Denn Caroline Adler, ein Traum von einer Stimme, bindet, das passt natürlich glänzend zu Purcells „If love’s a sweet passion“, wieder aus dessen genialer „Fairy Queen“, denn die performende Solistin verbindet Violine und Violoncello direkt miteinander; am Ende wird sie, in der Zugabe, die Musiker und Musikerinnen und einige Besucher in den vordersten Reihen gleichermaßen zusammenführen.
Man lächelt, man lächelt auch, wenn in Johann Heinrich Schmelzers „Fechtschule“ die beiden Geigerinnen, natürlich, einmal die Bogen kreuzen und die Musiker entzückende Hüpfer vollführen – und man wird bewegt, wenn sich auch die Wellen bei Händels Liebestrauer-Arie aus dem „Giulio Cesare“ bewegen: äußerlich, weil die Bewegungen des dünnen Plastiktuchs an des Meeres und der Liebe Wellen erinnern, wie Grillparzer das genannt hätte, und innerlich, weil Adler einen vollkommenen, sanften wie wilden Händel heraussingt, wenn sie durch das Wellenmeer läuft. Später sehen wir sie auf einem unendlichen Gang, eine Videoprojektion zeigt ihre Füße, beständig laufend, im Kreis der Schmerzen gibt es keinen Ausweg, das wusste schon Orpheus, der um seine Eurydike trauerte. „J’ai perdu“ aus Glucks Orphée-Oper (die Sängerin auf der Empore) markiert jedoch noch nicht das Ende der Rührung. Mit „Dido’s lament“ aus Purcells „Dido and Aeneas“, einem fast 350 Jahre alten Meisterwerk des Musiktheaters, erreicht der Abend seinen emotionalen Höhepunkt. Szenisch bedarf es dazu nicht viel, weniger ist wieder einmal mehr. Die Sängerin hüllt sich in das Plastiktuch ein, das sie zuvor wie einen riesigen Schleier hinter sich her zog, nun wird es zum Trauertuch. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Kunst soll, heißt es im Begrüßungstext, Brücken schlagen,a auf dass wir Wege finden zu Gemeinschaft und neuen Perspektiven. Schön, dass das auch durch „alte“ Musik (die es ja nicht gibt, wenn sie gerade gespielt wird) und neue Vermittlungsformen geht. Dass die Musik des sog. Barock, wenn sie so deliziös gespielt und gesungen wird, immer stark wirkt, steht außer Frage. Dass sie noch einmal anders und noch einmal bewegender ins Heute klingt, damit wir uns in Zukunft noch an sie erinnern: das ist nur einer der Schlüsse, den man und frau aus dem bemerkenswerten Abend zu ziehen vermag.
Alte Weisen. Neue Stimmen. Kammerchor Capella Transylvanica
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Gessees, St. Marienkirche, 4. August 2024
Singen sie nicht alle wie die Engel? Und passt es nicht auf sonderbare Weise, dass der Engel mit den goldenen Flügeln und dem goldenen Gewand fast vor und mitten unter ihnen steht?
Also der Kammerchor Capella Transylvanica! Wir und er sind bei den drei Marien auf dem Kirchenhügel zu Gesees zu Gast; dreißig junge Leute – 17 Frauen und 13 Männer – bringen Heimatliches aus Cluj-Napoca, dem alten Klausenburg in Siebenbürgen, a capella zu Gehör. Vorn steht Professor Cornel Groza, ein freundlicher älterer Herr (nochmal: ein Herr), seines Zeichens ständiger Dirigent des Transsylvanischen Staatlichen Philharmonischen Chors in Cluj-Napoca und Leiter des Kammerchors der Gheorge-Dima-Musikakademie in Cluj. Als ich das letzte Mal dort war, herrschte noch der steinzeitsozialistische Diktator Nicolae Ceaucescu über Land und Leute; damals war noch keiner, bis auf einen einzigen älteren Sänger, auf der Welt, und nun stehen sie vor einem Dirigenten, der ihr Großvater sein könnte. Altmeisterliche Kompetenz trifft also auf junge Stimmen, aber die Besucher der gotischen Markgrafenkirche müssen sich keine Sekunde lang Gedanken über die Kompetenz des Vokalensembles machen. Es ist schlicht und einfach – vollkommen. Fülle des Wohllauts, denke ich mit Thomas Mann, als die ersten Töne von Emil Simons „Tatăl nostru“ über uns kommen. Das Vaterunser beginnt leise, sehr leise; sie können einfach alles, sie singen, als flüstere ihnen gerade der liebe Gott der Musik die Musik ein. Zwei solistische Stimmen konnten wir schon zu Beginn hören, nachdem Isabel Bredow-Klaus in den Geist des diesjährigen „Zu:kunfts“-Festivals eingeführt hatte. Eine junge Sopran-Frau, ein junger Bass-Mann hatten ihre kurzen wie prägnanten Einsätze beim von Frank Piontek erdachten Dialog, mit dem Jana Zoike und Valentin Wohlfarth von den Stepping Stones in den Zusammenhang der Musik mit der (Markgrafen-)Kirche einführten. Per exemplum: „Denn die Musik wird ja für die Toten gespielt.“ „Für die Toten?“ „Entschuldige, das hat ein alter französischer Gambenmeister gesagt. War vielleicht übertrieben.“
„Nein nein, durchaus nicht. Für die Toten – und die Lebenden.“ „Für die Lebenden, die durch die Musik mit den -“ „- einst Lebenden verbunden sind.“
In Gesees musizieren sie zunächst für die Lebenden, die schon nach jedem Stück ehrlichen, freundlichen Beifall geben. Warme Wellen schwingen schon bei John Dowlands „Come again“ durch den Raum, Groza leitet seine jungen Leute so energetisch wie scheinbar entspannt durch die Klang- und Tonwelt, Rumänisches (Augustin Bena, Gavriil Musicescu, Tudor Jarda) trifft vor allem auf auf die Renaissance (Francis Pilkington, Pierre Passereau, Baldassare Donati, John Wilbye, Pierre Certon, Orazio Vecchi) und Mendelssohn („Oh Täler weit, oh Höhen“) und Jaako Mäntyjärvi. International halt, „Altes“ mit Neuem vermischt. Die Kontraste sind deutlich, ein italienisches Scherzlied unterscheidet sich ja selbst für den fast Tauben von einem innigen deutschen Gesang oder einem rumänischen, gleichfalls innigen rumänischen Liebes-Lied aus dem 20. Jahrhundert, doch selbst dort, wo sich die Harmonien ein wenig mehr in die Gegenwart bewegen wie in Tudor Jardas „Mă luai, luai“, herrscht eine alles verbindende Schönheit des Klangs, wie sie im geheimen Motto des Festivals definiert wurde: Kunst und Schönheit. Es klingen hier also nicht allein die Schlussakkorde herrlich: bis hin zu einem zunächst von den Sängerinnen geflüsterten Ave Maria Jaako Mäntyjärvis, dem sich die dunklen Männerstimmen legatomäßig zugesellen.
Den Rausschmeißer aber macht ein Hit der italienischen Renaissance: Orazio Vecchis „So ben mi ch’ha bon tempo“. „Ich weiß gut, wer eine gute Zeit hat“, singen sie da am Ende, um die gute Zeit, wenn der Dirigent schließlich zur Seite tritt, allein zu Ende zu bringen, bevor sie’s dann noch einmal, nun merklich schneller, bringen. Ein letzter Scherz nach so viel klanggewordener Emphase, gewiss – aber auf welchem musikalischem und sinnlichem Niveau!
Langer Beifall eines enthusiasmierten Publikums, das in der kleinen Kirche von Gesees absolute Weltkunst geschenkt bekam.
Fiesta Franconia. Ein Fest für unsere Freunde und Förderer
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Das Zentrum, 3. August 2024
Die Stimmung ist, und wie auch nicht, das, was man gelöst nennt. Kein Wunder: Die Intendantin reisst, in Verbund mit Adrian Roßner, dem Kenner und Liebhaber der oberfränkischen Kultur in Vergangenheit und Gegenwart, die Massen (er auch mund-artlich) bei ihren Eingangs-Conferencen mit.
Die Massen: das sind die „Freunde und Förderer“, die alljährlich dazu beitragen, dass das Festival „funktioniert“ - dass alles zur rechten Zeit am rechten Platz ist, wobei „Improvisation“ der zweite Vornamen des Fests zu sein scheint. Dass am Abend die erst vor wenigen Tagen eingeladenen und ein Visum empfangenden Azion, Maede und Shima, also drei charmante junge Frauen aus dem Iran auf der kleinen Bühne stehen, um eine Kostprobe aus ihrem Programm „Sufia. Musik aus Persien“ zum Besten zu geben (da schweigen sogar die lautesten Tuschler), ist ja keine Selbstverständlichkeit. Und dass man, wenn‘s plötzlich zu regen beginnt, flugs in den Europasaal wechseln kann, wobei die Wurstkessel im Trocknen stehen bleiben, ist kein Wunder, aber das Ergebnis einer Organisation, die sich durch Einsatz und Schönheit auszeichnet. Denn auch ein gelungenes Fest ist ein Produkt der Schönheit – dies nicht nur deshalb, weil die beteiligten Damen, die die Schubkarren mit den gekühlten Getränken durch die Menge schieben und Wein ausschenken, allesamt Blumenkränze im Haar und Dirndl tragen und die aktiv beteiligten Männer in der Lederhosn, mit Weste auch, agieren. Passend dazu: das Quartett namens Boxgalopp, das „neue fränkische Volxmusik vom Feinsten bringt“. Der Spaß ist groß, die Mitmachfreude ungeheuer, wenn Caroline Pruy-Popp nicht allein fiedelt, sondern auch, mit höflicher Beharrung, die Leute zum Rund- und Quadrattanzen animiert. Da tanzt sogar der ältere Herr Doktor Walzer mit (O-Ton aus dem „Rosenkavalier“) „ einem jungen Blut“.
Schon die Introduktion war ja formidabel. Die erste „Surprise“ brachte uns die berühmte Follia di Spagna, kredenzt als wandelnd rundherumlaufendes Streichquartett, voranrollend: der Violoncellist, nachlaufend: die höheren Streicher.
Was für ein zauberhafter Coup! Hatte Isabell von Bredow-Klaus, die letztjährige Chefin des Künstlerischen Betriebsbüros, die die diesjährige Revue noch organisiert hat, auch die Überraschungs-Idee, die Musik derart bewegt ins Fest einzuführen? Egal, wer sie hatte: sie war so famos wie der Einsatz des Regierungspräsidenten Florian Luderschmid, der im Abschluss an seine Rede einige Mitglieder der rumänischen Chor-Capella Transylvanica nicht allein beschwingt, sondern auch hochprofessionell leitete. Ein ausgebildeter Kirchenmusiker auf dem Posten eines Regierungspräsidenten – wo gibt es so etwas? Dort, wo es auch das unverwechselbare FjKB gibt.
OB Thomas Ebersberger sprach einige Worte, Sissy Thammer kommentierte launig und ein wenig kritisch (die diesjährige Streichung der Mittel für den „Bayreuther Abend“ 2024 fiel schon ins Gewicht), der Vorstand begrüßte Alle und Jeden von Herzen, und Isabel Grübl, Mezzo, sang die Habanera aus „Carmen“ und „La Flute de Pan“ aus Debussys Bilitis-Chansons. Zweimal Klassik zweimal völlig verschiedene Welten, aber eine beeindruckende Stimme in einem perfekt ausgeloteten Programm, das Lust machte, auf das, was kommt. Was sogleich, war gut kulinarisch, den Reichtum der nicht allein oberfränkischen Wurstwelt betonend, auch wenn man nicht wusste, wie man „Mettenden“ korrekt betont. Später enterten noch die sieben Turkmenen die Platzlbühne, spielten Schönes aus Ungarn und Argentinien, bevor die drei Damen aus Isfahan, angekündigt vom freundlichen Klavierprofessor Pooyan Azadeh, die Zuhörer entzückten. Fast wichtiger, ach was: genauso wichtig aber war sein Hinweis auf die Rolle, die das Festival in seinem Leben einnahm und nimmt. Hier stieß er vor 21 Jahren auf die europäische Klaviermusik, die seinen Lebens- und Musikweg entscheidend beeinflusste. Und von der Schönheit der fränkischen und bayerischen Landschaft vermag ja auch ein iranischer Klavierpädagoge zu schwärmen.
Der Rest spielte sich, zwischen den schönen Gesprächen, im Drei- und im Viervierteltakt ab.
Festliche Serenade. Kammermusikensemble aus Turkmenistan
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Speinshart, Kosterkirche, 2. August 2024
Was ist, wenn ein schuhplattelnder Wirt in der Provinz einer oberpfälzischen Nacht vor drei jungen iranischen Musikerinnen, die zwei Tage zuvor nicht lang geplant, sondern eher überraschend angereist sind, vor dem Gasthaus eine kurze Performance abliefert? Das Festival Junger Künstler.
Die Turkmenen sind schon kurz zuvor mit dem Taxis nach Bayreuth zurückgefahren. Gekommen waren: Eine Musikerin und sechs Musiker, Mitglieder des Turkmenischen Jugendkammerorchesters, das am selben Ort, ein Jahr zuvor, ein unvergessliches Konzert gespielt hat Nun also reisten sie als Kleinformation in die Oberpfalz. Was und wo ist „Provinz“? Etwas sehr Kleines, das freilich nur in den Köpfen existiert. Wenn die Klosterkirche fast gänzlich gefüllt ist, weil sieben Musiker aus einem sehr fernen Land Kompositionen der Klassik, aber auch der turkmenischen Moderne spielen, wenn am Ende begeisterter Beifall aufbrandet, dem leider keine Zugabe mehr folgt, ist die Musik, sind die Musiker zuhause: in keiner „Provinz“, sondern in einem Kulturzentrum. Es befindet sich diesmal halt auf dem Land, aber wer Zeuge des Konzerts sein kann, merkt, dass es mit diesen Musikern auch in der Berliner Philharmonie oder im Wiener Musikverein so und nicht anders gespielt werden könnte.
So und nicht anders? Vielleicht doch nicht. Denn wo die Technik der Dame und der Herren – alles auch ausgewiesen gute Solisten ihres Fachs – jenen hohen Standards entspricht, die der westliche Dünkel gern für sich gepachtet hätte, bringen die Turkmenen eine Dramaturgie ins Spiel, die denn doch typisch ist für das Festival Junger Künstler: „Neues“ wird da mit „Altem“ gemischt, Traditionelles mit (scheinbar und wirklich) Exotischem. Mozart trifft da auf Nurymov, Piazolla auf Baermann. Piazolla sei, so Sissy Thammer in ihrer Ansprache, allerdings das „Motto des diesjährigen Festivals“, denn der Süd- und Mittelamerika-Schwerpunkt ist offensichtlich. Das alles klingt bei den Turkmenen äußerst frisch, so wie schon der erste Satz des Flötenquartetts KV 285, in dem die glänzende Selbi Ovezova brilliert. Die Musik fährt wie ein heftiger Wind in die Kirche – und klingt das Solo im zweiten Satz, bei aller klassischen Form, nicht ein wenig so, wie man sich die turkmenische Volksmusik vorstellen mag:
chromatisch, schweifend, improvisatorisch? Ovezovas Mann, Yusup Ovezov (Sissy Thammer: „Bravo, Yusup!!“), bläst, wie schon im Frühjahr, eine wahrlich tolle Klarinette, das heißt: sein Ansatz ist so weich wie sicher – eine Musik, auch geschaffen für barock erstarrte wie bewegte Kirchenväter und eminent heilige Bischöfe.
In Heinrich Joseph Baermanns 3. Klarinttenquintett op. 23 geht es sehr energetisch, gar nicht „abgeklärt“ zu. Musikfreunde bemerken die Ähnlichkeit des ersten Hauptthemas mit dem Hauptthema aus Mozarts g-Moll-Symphonie, Wagner-Kenner wissen, dass der zweite Satz einstmals als „Wagners Adagio“ fehlzugeschrieben wurde, was dem Stück nichts von seiner leicht melancholischen Schönheit nimmt. Die Turkmenen spielen das alles, als wär‘s ihre musikalische Muttermilch; beim 2. Streichquartett ihres Landsmannes Chary Nurymov, „Zur Erinnerung an Indira Ghandi“, komponiert nach 1984, lernen wir eine gemäßigte Moderne kennen, eine Musica dolorosa mit schmerzhaften Sekundreibungen und wütenden Phrasen, die den Raum – die Kirche mit ihren christlich-passionierten Symbolen und Objekten– seltsam akzentuiert. Der Raum spielt ja immer mit, auch bei den vier Stücken des argentinischen Tangomeisters Astor Piazolla. Revirado klingt, mit Ovezov am Solo-Instrument, geradezu smooth durch den Raum, beim Bordel-Satz aus der Histoire du Tango (Solo-Flöte) lächeln sich die Musiker an diesem Abend zum ersten Mal zu (wie ernst muss das Leeben in der politisch schwierigen Heimat sein?, fragt sich der Zuschauer), Oblivion and Tango Adios trägt mit diesem Ensemble und der Klarinette ein geradezu orchestrales, ungemein klangschönes Gewand, und auf den Nightclub 1960 aus der Histoire du Tango-Suite, in dem sich zum ersten Mal alle Musiker zum Serptett vereinigen, könnte man phasenweise sogar tanzen. Buenos Aires am Barbaraberg – das hat was.
Tanzen in der Kirche? Wieso nicht? Tanz in der Kirche ist ja seit einiger Zeit ein Thema, sogar in der protestantischen. Vorderhand macht‘s der Wirt des Klosterwirtshauses – spät abends, in der Nacht, für drei iranische Musikerinnen und ihre fröhlichen Begleiter.
Symposion zur KI in der Musik und im Musikbetrieb
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Bayreuth, Das Zentrum, Kultursalon, 2. August 2024
Hineingeschnuppert in die Tagung: „Man muss keine Angst vor KI haben“. Aber Gebrauchsmusik, die von einer KI geschrieben würde: das wäre schon gut.
Alice Fischerauer gehört zu Jenen, die reflektiert über die Probleme und Möglichkeiten der KI nachdenken. Kein Wunder: sie gehört dem ingenieurwissenschaftlichen Fachbereich der Universität Bayreuth an und interessiert sich gleichzeitig für die „klassische“ Musik. „Kaum ein anderes Thema erhitzt die Gemüter derzeit mehr als das Thema Künstliche Intelligenz“, heißt es auf dem Waschzettel zum Symposion, indem die KI-Projekte des letzten Festivaljahres nun auch theoretisch vertieft werden. Der Komponist und Lehrer Fredrik Schwenk (HfMT Hamburg) ist eher skeptisch, wo es um den Einsatz der Technik in der Pop-Musik geht; bedenkt man, dass der erste Preissong des ESC 2023 von einer KI generiert wurde, darf man sich schon mal gern Gedanken über die Gefahren machen, die von der in der Musik eingesetzten KI ausgehen. „Wohin geht diese Richtung?“, fragt er und sieht die Gefahr besonders in der Tendenz, aus vorliegenden Modellen „Neues“ zu schaffen, das dann irgendwann zur Grundlage von noch „Neuerem“ wird, das sich ausschließlich aus KI-generierten Stücken speist. Zwar scheint die Musik vielen Menschen zu gefallen, okay, aber wo die menschliche Kreativität gegenüber der KI ins Hintertreffen geraten könnte, müsste man, so der Konsens, viel mehr auf die traditionelle Ausbildung in Sachen Kunst setzen, damit Unterscheidungen und persönliche Merkmale auch in Zukunft erhalten bleiben. Allein hier könnte man ein wenig Angst bekommen, wenn ein Kultursenator verlautet, dass der Anteil der Popmusik an den Lehrinhalten einer Musikhochschule auf 60 Prozent steigen könnte. Oder gar müsste?
Wo aber die KI als Werkzeug eines Künstlers, einer Persönlichkeit, einer Individualität genutzt werden könnte, müsste man kein Furcht vor den Eingriffen der KI in den menschlichen Schaffensprozess haben –zumal jetzt schon bekannte Komponisten sich eines Teams versichern, dass die Entwürfe des Komponisten quasi wie in einer Künstlerwerkstatt des Mittelalters oder der Renaissance ausarbeitet. Schließlich hat schon Alexandre Dumas d.Ä. eine gut funktionierende Roman-Fabrik geleitet (in der gelegentlich haltbare Kunstwerke produziert wurden). Giacinto Scelsi steht, so betrachtet, auf einem Niveau wie der Filmmmusikschreiber John Williams. Die Diskussion, mit Prof. Claas C. Germelmann (Lehrstuhl für Marketing & Konsumentenverhalten an der Bayreuther Fakultät der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften) und Simeon Allmendinger (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bayreuther Forschungsinstitut für Informationsmanagement) an der diskursiven Spitze, fragt eher nach den „extremen Chancen“ der KI als nach den eingestandenen Risiken, nachdem die Diskussion über die Erörterung des Genie-Begriffs (Clemens Thomas vom Freiburger Ensemble Recherche hält ihn für überholt, Schwenk das unverwechselbare Künstlertum für erwiesen), die Benachteiligung „kleiner“ Bands und Musiker gegenüber den gegenwärtigen Pop-Giganten und die „Demokratisierung von Kreativität durch KI“, so Clemens Thomas, berührtt wurden. Die Pariser Eröffnungsfeier der Olympiade 2024 kommt mit seiner nicht-binäre Persönlichkeiten präsentierenden Revue über Mozarts und Dapontes Figur des androgynen Cherubino ebenso ins Spiel wie, so der Gast Stefan Wladarsch, das kreative Potential, das zumal in Deutschland in der Breite der Gesellschaft sich betätigt: mit und ohne KI. Also wieder einmal:
Der Vorhang zu – und alle Fragen (der KI und der NI) offen.
Dandelion. Klangvisionen. Das Holzbläserquintett spielt Zukunftsmusik
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Villa Markgraf, 30. Juli 2024
Musik klingt anders, wenn sie an anderem Ort erklingt. Die Aussage klingt trivial, aber das ist sie auch: selbstverständlich. Nur macht man sich nicht immer klar, dass die Wirkung von Musik – wie das Spielen derselben – in einer barocken Klosterkirche anderen Gesetzen unterliegt als im Freien.
Das Dandelion-Holzbläserquintett spielte also sein Programm, das es am Vortag in Speinshart brachte, am nächsten Abend im Garten der Villa Markgraf, also in der Lisztstrasse 16, gleich am Bayreuther Hofgarten gelegen: als Freiluftmusik. Denn Antonio Rosettis Es-Dur-Quintett, mit dem 1780 die Geschichte der Gattung Bläserquintett begann, kann auch (wir befinden uns in der Mozart-Zeit) als Serenade verstanden werden, ja: als „Pop-Musik“ der damaligen Epoche, wie Miriam Hanika in ihrer launigen Conference sagt. Die Easy-Listening-Musik passt glänzend zum Ort, dem Sitz der Oberfrankenstiftung und der Rainer Markgraf Stiftung, dessen Geschäftsführender Vorstand, also Florian Prosch, die zahlreichen Gäste willkommen heißt. Das Festival ist das erste Mal in der frisch renovierten Villa zu Gast; es sollte nicht das letzte Mal sein – und genau solch populäre Formate, mit Weißwein, Wasser und Grissini und einem Aprés im zauberhaften Kellergewölbe der alten Villa, tragen ja dazu bei, weitere Fördermitglieder zu werben; Sissy Thammer weiß schon, wie man das macht.
Wo sich Kunst und Schönheit auf schlichtweg unverwechselbare Weise am auratischen Ort paaren und der milde Sommerabend Seins dazu gibt, klingt die Musik eben noch einmal ganz anders in die Herzen.
Man muss ein bisschen an Italien denken, als die Oboistin Mozarts Wort vom „Welschland-Paroxysmus“ zitiert. Italien war damals enorm in Mode, heute Abend darf man sich ein wenig wie im Friaul fühlen, aber Franken: das „bassd“ nicht nur, das ist perfekt. Sie spielen Aftab Darvishis Land of Lights, und der Himmel über Bayreuth ist fast barock. Musik und Glanz bergen sich unter den großen Sonnenschirmen, wieder treten die Musiker, vom Hals bis zu den Schuhen, in Tiefschwarz auf, aber die Stimmung ist durchgehend hell, weil die Wendung gegen den Historismus, der neu komponierte Stücke anmahnt, sich heute abend der Atonalität verweigert, ohne ins Reaktionäre zu fallen. Am Ende ist das Schwärzeste der schwarze Porsche, den Julio Medaglia in seine Belle Epoque in Sud-America-Suite hineinkomponiert hat. Der Rest ist die kurze, zarte Zugabe aus Jacques Iberts Trois pièces brèves: eine Musik von 1930, die wie von und für heute geschrieben scheint. Und passt die pastorale Musik nicht ideal in den begrünten Raum, den anderen?
Dandelion. Klangvisionen. Das Holzbläserquintett spielt Zukunftsmusik
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - Speinshart, Klosterkirche Maria Immaculata, 30. Juli 2024
Was ist milder als ein Sommerabend? Ein milder Sommerabend in Speinshart. Wo sich die Musik, der Raum und die vollkommene Stimmung zu einer unbeschreiblichen Mischung verbinden, weiß man, dass man sich in der von außen und von innen erleuchteten Klosterkirche in Europas einzigem erhaltenem Klosterdorf befindet.
Das Festival wird eröffnet; immerhin 70 Menschen sind gekommen, um das Ensemble zu hören – das ist viel für ein als exotisch geltendes Programm mit einer immer noch seltenen Besetzung, denn sooo viele (Holz-)Bläserquintette gibt es ja nicht. Auf der bekannten Internetlexikonseite werden gerade einmal vier Ensembles genannt; dringend erwähnt werden müsste dort auch die phänomenale Truppe namens Dandelion. Dandelion, das Wort bedeutet „Löwenzahn“. Der Löwenzahn, so lesen wir’s im botanischen Nachschlagewerk, sei eine „andauernde krautige Pflanze“. Nein, „krautig“ klingt da nichts in den Raum. Auch nicht – jedenfalls nicht „wirklich“ – zukünftig, auch wenn, nach dem Motto des Festivals, der Waschzettel des Konzerts „Zukunftsmusik“ verheißt. Denn: Gibt es das – Zukunftsmusik? Da doch live erklingende Musik, gleich welchen Alters, immer nur von und für heute zu sein vermag? Vielleicht weiß die Uhr, dort oben, im strahlenkranzumleuchteten Altarauszug, mehr davon… Dandelion, drei Musikerinnen und zwei Musiker, weiß natürlich, wie die Leiterin Miriam Hanika sagt, dass es Zukunft nur im Bewusstsein von Vergangenheit und Gegenwart geben kann. Die Festivalleiterin Sissy Thammer akkompagniert die Idee, wenn sie gegen die Verwerfungen und Krisen eben jener Gegenwart die „universelle Kraft der Kunst und Schönheit“ beschwört. Dafür stehen, sagt sie, 2024 nicht weniger als 250 Teilnehmende aus 20 Ländern, dafür steht das „Stepping Stone“-Programm (die jungen Leute vom KBB und in der Ausbildung stehen etwas verlegen und zurecht etwas stolz vor dem rechten Seitenaltar), dafür steht die „intellektuelle Intelligenz“, aber auch das, was Sissy Thammer als Ausbildung des Herzens beschreibt.
So tickt auch die Musik, die ja zunächst das Ergebnis eines intellektuellen, handwerklich versierten Kompositionsprozesses ist, bevor sie in die Seelen strömt. Es ist schon ein Coup, das Zukunftsprogramm mit einem Quintett jenes Komponisten zu beginnen, der am unmittelbaren Beginn der Gattung Holzbläserquintett steht. Dandelion holt „die Leute“ aus der Region, auch die Oberpfalztouristen, dort ab, wo sie stehen, wie man so schön sagt. Mit Antonio Rosettis Es-Dur-Quintett von ca. 1780 eröffnen sie den Abend, also einem Stück der Easy-Listening-Kultur, das noch nach einem Vierteljahrtausend zu wirken vermag. Das ist heiter, verspielt, die barocken Putten geben dazu ihr unhörbares „Jubilate!“, der Raum spielt mit. Eigentlich - und uneigentlich - spielt er immer mit, aber manchmal harmoniert er eben auf perfekte Weise mit dem Klang, der die Jahrhunderte überdauert hat. Das Ensemble spielt ihn aber auch schlichtweg vollkommen heraus.
Nicht allein die Zusammenstellung des Programms, diese Mischung aus „Alt“ und „Neu“, ist ausgesprochen gut, auch die Technik. Merke: Nicht alles, was leicht klingt, ist auch leicht zu spielen, und 2.: Nicht jede Komposition, die heute geschaffen wird, klingt nieselnd-krachend in die Ohren. Dandelion vergab ein paar Kompositionsaufträge; also hören wir am Abend Land of Lights der 1987 geborenen Komponistin Aftab Darvishi und THUMB von Carlos Cipa (Jahrgang 1990). Beide verweigern sich dem, was die Oboistin „atonal“ nennt, und beide schreiben, bei allen unvermeidlichen Dissonanzen, die die Musik erst würzen, das, was man „harmonisch“ nennt: Cipa mit sanft sich aufbauenden Klangflächen, Darvishi mit vollen Akkorden und zurückhaltenden Anklängen an die iranische Volksmusik. Auch das kommt sichtlich an.
Das Bläserquintett sei, sagt Hanika, wie ein Salat, während das Streichquartett oder Quintett eher einer Suppe gleiche. Das macht: die Verschiedenartigkeit der einzelnen Holzblasinstrumente. Dorothea Bender (Horn), Natalia Karaszewska (Flöte), Kaspar Reh (Fagott) und Maximilian Strutynski (Klarinette) wissen, wie man einen „alten“ und eine „junge“ Komponistin zu spielen hat. Also klingt auch Paul Taffanels „romantisches“ g-Moll-Quintett so in den Raum, als sei es für ihn geschrieben worden. Das beginnt kräftig, über den Musikern schwebt fast die Madonna im Strahlenkranz, Geist und Welt verbinden sich wieder einmal unlösbar. Man sieht auf die Zwickelfresken im Chor, wo Engel allerlei Instrumente spielen, Laute, Gambe, so was – und einer bläst tatsächlich in ein Rohr. Das Andante, leicht schreitend, entbindet Gefühle,, die Musik nicht befriedigen kann, wie der Musikphilosoph Theodor W. Adorno gesagt hätte. Ich denke: Das Leben ist schön, warum nur kann es nicht wie ein ewiges Kirchenkonzert sein? Weil das Leben eine Zukunft braucht, die sich (auch) in anderen Räumen abspielt. Aber dass die Harmonie der fünf Stimmen, der fünf Musiker, der Musik, so etwas wie philosophische Gedanken provozieren kann: auch dies spricht für den Abend im schönen Raum. Langer Beifall also schon für dieses Stück.
Ganz anders klingt dann Paul Hindemiths gleichsam sachliche Kleine Kammermusik op. 24/2 (merke: Es gibt keine „sachliche“ Musik) in die Klosterkirche. Hanika entdeckt in ihr Reflexionen einer Vergangenheit, die immer noch existiert: das Maschinenwesen (KI: auch das ist ein Thema des diesjährigen Festivals) und des Militärs. Zuletzt schicken sie Julio Medaglias leichtfüßige Suite Belle Epoque in Sud-America in den Raum. Wieder wird die Musik zum Gegengift für eine unschöne Gegenwart. Tango, Tango Valse und Habanera zitieren einen schwarzen Porsche, eine Fahrt zum Attersee und ein „verrücktes Klarinettchen“. Das macht, auf hohem Niveau, einfach nur Freude. Ist das nun „E“? Oder „U“? Wo zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit kein Blatt Notenpapier mehr passt, ist die Musik einfach nur – gut. Und bisweilen beglückend mild.
Richard, die Kunst und das leibliche Wohl
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - 16. Juli 2024
Richard Wagner und Genuss, geht das zusammen? Wenn man bei tropischen Temperaturen gefühlte sechs Stunden auf den unbequemen Stühlen im Festspielhaus sitzt? Oder wenn man versucht, seine monströse Schrift Oper und Drama am Stück zu lesen? Immerhin hat er hier das Vergnügen, das man damals und wohl auch noch heute an ganz normalen Opern und Opernbesuchen hatte und hat, mit jenem Vergnügen verglichen, das der Freier hat, der zu einer Prostituierten geht.
Bleiben wir beim Genuss, der das leibliche Wohl garantiert. Wer in Wagner den Verächter des Gewöhnlichen entdeckt, der irrt. Nur, weil er (angeblich) anstrengende Opern und Opernzyklen schrieb, war der Mann ja noch kein Kostverächter. Im Gegenteil: Wagner war kein Knauserer, sondern ein Luxusmensch. Wir müssen uns den Exilanten auf dem Markusplatz vorstellen, wie er gerade wieder Champagner und Eis bestellt. Kein Wunder, dass Cosima Wagner in ihrem Tagebuch immer wieder sog. Diätfehler ihres Gatten vermerkt. Da hatte er halt wieder einmal zu viel Bier, daneben Wein getrunken, was seiner zarten Gesundheit abträglich war – aber dass ihm sein Wohl nicht egal war: davon zeugen all die Einträge bezüglich Rausch- und Nahrungsmittel. Austern, Fisch, Käse, Wildbret: er hat das alles bewusst aufgenommen, war in diesem Sinn kein Kostverächter – wie er ja auch immer weibliche Begleitung benötigte, die ihn bei körperlicher, aber auch seelischer Laune halten sollte.
Dass beides zusammenhängt, ist eine Binsenweisheit. Das Leben aus Denken, Schaffen, Fühlen und Genießen ist schließlich ein Gesamtkunstwerk. Seele und Körper gehören, das wusste man schon in der Antike, unabdingbar zusammen: bei aller Bescheidenheit. Gab es zum Frühstück nur Milch und Brot, so wusste Wagner abends, was ein guter Braten wert ist. Kamen hinzu die netten Sachen in Aspik, Wirsingfrösche, Rebhuhn, Leipziger Allerlei und die aus Frankreich mitgebrachten Rezepte Cosima Wagners – und, in Bayreuth, immer wieder Besuche in der Gaststätte Angermann. Der unglaublich fleißige Lebemann rauchte Zigarren und schnupfte Tabak, das gehörte einfach dazu. Sein Verhältnis zu den Köchinnen, auch in Bayreuth, muss gut gewesen sein. Die Beziehung ist einfach, aber wichtig: kein Kunstwerk ohne Komfort, also auch keine Opernstoffe ohne Seidenstoffe. Wagner benötigte, das hat er bestätigt, die vielen hochwertigen Textilien, um sich pudelwohl zu fühlen, denn seine beständigen Hautprobleme vertrugen keine rauen Stoffe. Warum ihm also vorwerfen, dass er viel Geld für die teuren Tag- und Nachtgewänder und die Wandausstattungen seiner Wohnungen ausgab, um sich so gut zu fühlen, dass er, offensichtlich nur so, in kürzester Zeit einen grundoriginellen Tristan schreiben konnte?
Nein, Wagner war, soweit es das leibliche Wohl betraf, kein Verschwender. Komfort war für ihn ein pures Überlebens- und Produktionsmittel. Wer gerade den zweiten Akt des Tristan instrumentiert hat: Sollte der kein Recht darauf haben, abends auf dem Markusplatz sein Sorbet zu schlürfen? „Im Genuß nur kenn' ich Liebe!“, so lässt er es seinen Tannhäuser sagen. „Frei im Genießen“, das war das Schlagwort seiner revolutionären Schriften. Doch doch, Richard Wagner und Genuss: das geht sehr gut zusammen.
Was ist eigentlich die Zukunft?
Dr. Frank Piontek, Kulturpublizist - 17. Mai 2024
Die Antwort fällt nicht schwer: „Zukunft in räumlichem sinne herankunft, ankunft, war die herrschende anwendung im mittelhochdeutschen und auch noch im 16., selbst anfang des 17. jahrhunderts. Spätere lexikalische erwähnungen beziehen sich auf die kirchliche formel, in welcher sich die sonst veraltete bedeutung bis ins 19. jahrhundert erhalten hat. Diese hat wohl auch in späterer zeit die verwendung des wortes für ankunft veranlaszt: man erinnere sich nur, auf wie viele hundert arten die anbrechung des tages und die zukunft der nacht von den alten und neuen poeten vorgestellet worden.“ So liest’s man in Grimms Deutschem Wörterbuch. „Räumliche herankunft oder ankunft“, auch im Sinn von „Heimkehr“, dann auch verstanden als etwas „Drohendes, Feindliches“ – mit einem Wort: „Zukunft ist der auf die Gegenwart als folgend gedachte Zeitraum“.
Ankunft, Heimkehr, Bedrohliches, das was kommt: all das ist Zukunft. Wenn das Festival junger Künstler 2024 den durchaus vielschichtigen Begriff zum Titelmotto macht, begreift man sofort, wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt: die Hoffnung (auf Gutes) und die Furcht (vor Veränderungen). Wir sind ja mitten drin in diesem Transformationsprozess, der uns – schlimmer noch, als wir es im Sommer 2023 ahnen mochten oder wollten – beim Nächstliegenden erwischt hat. Ob wir wollen oder nicht: wir müssen die Wandlungen akzeptieren, um selbst, wenn’s glückt, mit unseren künstlerischen Mitteln in sie einzugreifen. Wir müssen selbst an der Zukunft arbeiten, indem wir in der Gegenwart zwischen „reiner“ Kunst, die es nicht geben kann, und gesellschaftlicher Verantwortung zu agieren.
Das Festival junger Künstler hat seit 74 Jahren am Zukunftsprojekt gearbeitet, indem es Tradition und Innovation, oder anders: Überlieferung und Veränderung, ineins gesetzt hat: in der Begegnung von Menschen und Kulturen, Musik und Kommunikation, Bewahrung und Aufbruch. Um es pathetisch auszudrücken: Man hat gar keine andere Chance, die Zukunft der Welt zu retten, als miteinander zu reden oder / und im musikalischen Gespräch miteinander in Kontakt zu kommen. Auch in diesem Jahr wird das Lost (in) Nature-Projekt auf die Fragilität der Natur hinweisen, werden Sängerinnen und Sänger aus sog. Problemregionen (aber welche Region wäre heute nicht problematisch?) zusammenkommen, um ihre sog. klassische oder nicht-klassische Musik buchstäblich unters sog. Volk zu bringen: bei freiem Eintritt, also besonders viel Teilhabe ermöglichend. So vermag Kunst zur Politik zu werden, ohne ihr die Freiheit des puren Bei-sich-Seins zu rauben. Neue Medienformate, die Herausforderungen der KI, alte Werke und ihre jeweils gegenwärtige Interpretation: all das ist schon Teil eines Kommenden im Heute. Wie lange dauert die Gegenwart? Psychologisch gesehen nur 2,3 Sekunden …
Seit 1950 kommen junge Leute aus aller Welt in Bayreuth zusammen, um gemeinsam zu musizieren. In den letzten Jahren wurden dramaturgische Gewichte ins Geflecht der Programme eingezogen; erinnert sei an die Orient meets Occident-Ereignisse und, in den letzten Jahren, die Integration zumal der ukrainischen und turkmenischen Musiker und Musikerinnen ins Festivalprogramm. In diesem Jahr wird eine kulturell ungeheuer reiche und vielfältige Region in einem der Mittelpunkte des Festivals stehen, die lange nur als exkoloniales Relikt wahrgenommen wurde: Lateinamerika. Eine in Bayreuth lebende Künstlerin aus Mexiko wird, und auch dies gehört zur zukunftmachenden Künstlerförderung, Artist in Residence sein. Sie ist zugleich Sängerin und Instrumentalistin, die sich im „Klassischen“ wie im „Populären“ ihrer Heimat glänzend auskennt. Mehr Cross-over geht kaum; am 2. Juni wird Claraliz Mora zusammen mit ihrem Mann, dem Bassisten Oliver Pürkhauer, das Festival schon mal vorab eröffnen.
Kann Kunst, kann schöne und bewegende, „hässliche“, aber wahre Musik die Zukunft der Welt retten? „Die anbrechung des tages und die zukunft der nacht“: All das ist und vermag Zukunft zu sein. Das Festival junger Künstler kann auch in diesem Jahr dafür sorgen, für vier lange Wochen Zustände zu befördern, die die Welt ein bisschen reicher machen und das Bewusstsein für das Wahre, Gute und Schöne – und die Sensibilisierung für deren Gegenteil – schärfen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.
Wie der bayerische Dichter und Denker Herbert Achternbusch, der vor über 50 Jahren Teilnehmer des Jugendfestspieltreffens war, einmal so schön sagte: Du hast keine Chance, also nutze sie.